Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 02 - Ein plötzlicher Tod
dem sie Vertrauen hatte. Und ehrlich gesagt wollte sie im Augenblick gar nicht darüber reden. Sie wollte alles überstanden haben: die Operationen, die Krankschreibung, die Rehabilitationsmaßnahmen, Rickard, den ganzen Mist, und wollte so leben wie früher. Noch einmal von vorn anfangen.
Sie nahm nicht an, dass er so davonkommen würde.
Ihr fiel ein, dass es eigentlich schon ziemlich lange her war, dass sie hatte tun können, was sie wollte, zumindest daheim. Fast zwei Jahre zusammen mit Rickard hatten sie irgendwie mental behindert werden lassen. Immer auf dem Sprung, nachgiebig und vorsichtig.
Es gehören immer zwei zu einem Streit. Die Worte klangen bereits seit langem in ihrem Kopf nach. Es war auch ihr Fehler gewesen. Sie hätte sich schon lange von ihm trennen sollen. Es war ihr Fehler, dass sie nicht Schluss gemacht hatte, als sie merkte, dass es ruhiger wurde. Als sie ihm nicht mehr widersprach, ihm immer zustimmte oder einfach schwieg.
Sie nahm den Fahrstuhl zum Erdgeschoss. Sie versuchte nur geradeaus zu schauen, wollte nicht all den neugierigen Blicken begegnen, überlegte, ob sie sich ein Schild vor den Bauch hängen sollte. »Ich bin eine verprügelte Frau.«
Sie war eine Frau, die sich hatte misshandeln lassen, sie hätte doch wissen müssen, dass es eines Tages knallen würde. Schließlich war sie Polizistin. Es gab keine Entschuldigung, sie hatte die Warnzeichen nicht sehen wollen, wie all die anderen misshandelten Frauen auf der Welt, und dafür bezahlte sie nun.
Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass er sich öffnen würde, sich ändern, sie lieben würde ohne Besitzanspruch? Dass sie sich anpassen würde, sich so verändern, dass er sich sicher und geborgen fühlte? Ihrer sicher. Er wollte sich ihrer sicher sein, so sicher, wie niemand es jemals sein kann. Ihre Beziehung hatte nichts mit Liebe zu tun, sondern war vielmehr eine Mischung aus Gesellschaftsnormen, Gewohnheit und Sex und einer großen Portion Machtkampf. Wie man jetzt sehen konnte.
Hatte sie eigentlich auf diesen Ausbruch roher Gewalt gewartet, damit sie im Recht war zu gehen, für immer davonzulaufen, ohne eine Erklärung schuldig zu sein? Sie wäre ja wohl eher eine Erklärung schuldig, wenn sie wieder zu ihm zurückginge, aber dieses Mal würde sie das nicht tun. Es war ihr egal, was seine Mutter und seine Schwester sagten. Sie dachte gar nicht daran, auf irgendwelche Vorwürfe zu hören, dass sie ihm eine Chance geben sollte, ihm helfen. Und es war ihr egal, ob er im Gefängnis landete. Es wäre sogar eine Befriedigung, ihn dort zu sehen.
Sie kaufte am Kiosk eine bunt bebilderte Illustrierte. Das Lesen mit nur einem Auge war mühsam, aber es ging, wie sie feststellte, als sie in der Zeitschrift blätterte. Es duftete nach Kaffee aus der Cafeteria, sie bekam Appetit, wollte aber lieber etwas Kaltes mit kräftigem Geschmack trinken. Sie ging hinüber und ließ sich dort mit einem Erfrischungsgetränk nieder, das sie mit Hilfe eines Strohhalms zu trinken versuchte.
Sie bildete sich ein, weniger aufzufallen, wenn sie dort an der Wand saß. Gleichzeitig konnte sie ungehindert all die Leute beobachten, die durch die Eingangshalle hereinkamen, Menschen aller Art: Kranke, Hinkende, Gebeugte, Gesunde, Junge, Alte. Ein Kind mit aufgedunsenem Gesicht in einem Minirollstuhl, das sehr, sehr krank aussah, und eine junge Frau, die es schob. Erika versuchte nicht so hinzustarren, wurde aber von diesem Anblick gepackt und warf verstohlen immer wieder einen Blick auf die beiden. Was das wohl für ein Gefühl ist, ein Kind zu haben, das vielleicht nicht mehr weiterleben wird, dachte sie, aber der Gedanke war so schlimm, dass sie ihn sofort fallen ließ. Sie betrachtete dafür einen jungen Mann, dessen Bein von der Hüfte bis zum Fuß eingegipst war, so dass er sich mit einem Gehwagen fortbewegen musste, einen alten Mann mit Haut weiß wie die Wand und einem durchsichtigen Schlauch in der Nase, der zu einem Aggregat hinter dem Rollstuhl führte, eine abgemagerte Frau ohne Haare in dem hässlichen blau gemusterten Morgenmantel des Krankenhauses, die sich auf einen offenbar gesunden Mann stützte, vermutlich ihr Ehemann, der bald Witwer werden würde.
Erika spürte, wie ihr bereits vorher vorhandenes Unbehagen immer stärker wurde. Sie sog den Orangensaft in sich hinein und stellte das Glas ab. Ob das Paar sich wohl traut, das Schreckliche zu benennen, was bald geschehen wird? Vielleicht würde es ja auch noch dauern. Manchmal konnte es
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