Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
»Deine Mama arbeitet hier nicht!«
»Ich kann das machen«, sagte die eine Schwester, der ihre Existenz plötzlich aufgefallen war. »Geh schon!«
Skotte und sie begaben sich ins Ärztezimmer. Er bot ihr den Lehnstuhl an, nahm auf dem Schreibtischstuhl Platz und beugte sich zu ihr vor, aber nur ein wenig. Absolut nicht zudringlich.
»Das war natürlich alles andere als erfreulich, das ist uns klar«, sagte er. In diesem Moment fiel ihm auf, dass auf ihrem Stuhl normalerweise die Patienten saßen. Er saß auf dem Platz des Arztes. Auf dem Stuhl mit Rollen.
Er war sich bewusst, dass die jetzige Situation trotz gewisser Ähnlichkeiten eine andere war. Die Rollen waren gegeben, er diktierte die Bedingungen. Von ihm wurde erwartet, dass er die Initiative ergriff und das Beste aus der Situation machte, zuhörte und bestärkte. Seine Aufgabe war es, zu trösten.
Der Starke, dachte er. Ihm gefiel diese Rolle. Er war es, der eine helfende Hand darbot, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Wie jetzt. Denn wer war eigentlich für ihn da? Er begann zu ermüden, und das Schlimmste hatte er noch nicht einmal hinter sich.
Im Grunde genommen fühlte er sich recht einsam. Seine Freundin hatte ihn vor fast einem |ahr verlassen, und er hatte nicht verstanden, aus welchem Grund. Sie war ausgezogen und hatte kahle Räume hinterlassen. Anfänglich hatte er immer gefroren, sowohl beim Zubettgehen als auch beim Aufstehen. Der Asphalt war sein Trost gewesen. Die langen, monotonen Joggingrunden.
Er dachte jetzt jedoch nicht mehr jeden Tag daran. Jetzt war es viel besser, jetzt war er bereit.
Sara-Ida saß vollkommen reglos da. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wartete.
»Nein«, brachte sie schließlich über die Lippen.
»Besonders bedauerlich ist, dass du so etwas ausgerechnet am ersten Tag erleben musstest.«
Sie nickte. Wusste nicht recht, was sie darauf entgegnen sollte. Oder tun sollte. Etwa hysterisch heulen?
»Ich habe nichts getan«, murmelte sie, schaute mit ihren schwarzen Wimpern nach unten, und ihre Wangen wurden fleckig.
Sie war so unglaublich süß, eine Tatsache, die er keine Sekunde vergessen konnte. Sie war so entzückend und fast kindlich, dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Ihre Ohren standen etwas ab, das machte sie nur noch niedlicher, obwohl sie eigentlich recht groß und sonst nicht der niedliche Typ war. Eher kühl wie ein Model. Sie trug kleine Steine in den Ohrläppchen, die unschuldig weiß funkelten, genau wie ihre gleichmäßigen Zähne, die sie zeigte, wenn sie lächelte. Ihr braunrötliches Haar trug sie mit einer Spange hochgesteckt. Er bekam plötzlich Lust, die Spange zu lösen. Wollte sehen, wie sie aussah, wenn ihr Haar weich ihr Gesicht umrahmte.
»Niemand glaubt, du hättest einen Fehler begangen«, sagte er mit Nachdruck und sah sie erstaunt an.
»Ich meine, vielleicht kommt irgendjemand auf die Idee, ich könnte etwas getan haben«, sagte sie so leise, dass er ihre Stimme kaum hören konnte. Er sah sich genötigt, sich noch näher zu ihr vorzubeugen.
»Niemand denkt so etwas«, sagte er leise und immer noch mit Nachdruck. »Wir nehmen viel zu bereitwillig die Schuld auf uns für Dinge, die wir nicht zu verantworten haben, das ist einfach so. Aber niemand glaubt, dass du etwas damit zu tun hast. Das war einfach Pech.«
Er versuchte zu lachen, um die Stimmung aufzulockern. Sie lächelte beinahe, aber sehr verlegen. Er spürte, dass sich seine Hand nach ihrer Wange sehnte. Wie er in Gedanken bereits dabei war, darüberzustreichen. Erst ganz leicht mit den Fingerspitzen, dann herunter bis zum Schlüsselbein.
»Wir kennen die Ursachen nicht. Du weißt doch auch«, sagte er mit begütigender Stimme, »dass die Patientin frisch operiert war. Komplikationen kann es immer geben.« Er beugte sich noch eine Idee näher zu ihr vor.
Sie nickte.
»Du darfst gerne jetzt schon nach Hause gehen, obwohl noch nicht Feierabend ist«, meinte er.
»Das ist nicht nötig.«
Sie zuckten beide zusammen, als es klopfte. Beide drehten ihre Köpfe zur Tür. Sophie schaute herein.
»Der Ehemann ist hier.«
Daniel Skotte nickte.
»Ich komme.«
Claesson sah auf dem Display, dass Veronika anrief. Das tat sie nur selten. Aber wenn doch, dann hatte es fast immer mit der Familienlogistik oder mit irgendwelchen Besorgungen zu tun. Oder damit, dass er dringend irgendwo anrufen sollte.
»Hallo!«, sagte er freudig.
»Es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte sie.
Ihm wurde eiskalt.
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