Lust und Gefahr
und wunderschön. Sie malte sich aus, wie sie es in den geöffneten, blutigen Mund von Amendolas Frau legen würde. Das wäre der ultimative Stich in sein Herz.
Sie stieg aus und ging den unebenen Bürgersteig entlang, als hätte sie jedes Recht, dort zu sein. Glücklicherweise war die Eingangstür zu dem Haus, in dem Amendola lebte, nicht auf der der Straße zugewandten Vorderseite des Hauses, sondern ging zur Seite raus. Minuten später hatte sie das Schloss der Eingangstür geknackt und machte sie einen Spaltbreit auf. Julia bereitete sich darauf vor, dass die Alarmanlage erklingen würde, aber alles blieb still.
Als sie die Tür weiter aufschob und das bescheidene Häuschen betrat, konnte sie sich denken, warum er keine Alarmanlage hatte. Die Wohnung war glanzlos und spärlich eingerichtet. Eine Couch, ein Fernseher. Keine persönlichen Gegenstände. Nichts, das es wert gewesen wäre, es zu beschützen. Die Nacktheit der Wohnung dieses Mannes musste die Leere seiner Seele widerspiegeln.
Unglücklicherweise zeigte diese Wohnung auch, dass es in seinem Leben keine wichtige Frau gab. Denn in einer solch nichtssagenden Umgebung lebte sicherlich keine Frau.
Die Küche war unauffällig. In den Küchenschränken standen Whiskey- und Bourbonflaschen. Im Kühlschrank fand sie Gewürze und Bier. So. Er trank offenbar viel. Keine große Überraschung. Sie ging ins Badezimmer, um nach weiblichen Hygieneartikeln zu suchen, und fand nur Kondome. Offenbar blieb sein Damenbesuch nie lange. Vermutlich nahm er die Frauen einfach gleich vornübergebeugt auf dem Tisch, vögelte sie und drückte dann die Kurzwahltaste an seinem Telefon, damit ein Taxifahrer die Frauen abholte, sobald er kam. Das Mitgefühl für die Frauen, die er so missbraucht hatte, schnürte ihr die Kehle zu. Im Internet hatte sie einen Eintrag über eine kurze Ehe gefunden. Sie fragte sich, ob er seine Frau geschlagen hatte. Wahrscheinlich hatte er sie vergewaltigt und misshandelt.
Sein Schlafzimmer war schlicht. Ein großes Bett mit einer silbergrauen Tagesdecke. In seinem Schrank hing eine bescheidene Sammlung von Hemden, Anzügen und Jacken. Keine Designerstücke.
William dagegen hatte nur das Beste getragen.
Noch zwei Schlafzimmer. Eines diente als eine Art Allzweckzimmer, das andere war ein Büro mit riesigem Schreibtisch, Aktenschrank und einem Laptop. Hier fand sie einen zweiteiligen Bilderrahmen, in dem zwei Fotos prangten. Eines zeigte Amendola mit einem gutaussehenden Mann, der ungefähr in seinem Alter war, und einem jüngeren Mädchen in den Bergen. Die Männer hatten eine Kletterausrüstung angelegt und lachten breit über ihre leicht von der Sonne verbrannten Gesichter. Das Mädchen wäre hübsch gewesen, hätte sie nicht diese dicke Brille und die Zahnspange getragen. Ihr Gesicht hatte Ähnlichkeit mit dem von Amendolas Freund. Möglicherweise war sie seine kleine Schwester. Amendola hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Julia starrte auf die Stelle, an der die beiden sich berührten. Das andere Foto war an einem See aufgenommen worden. Dieselben zwei Männer saßen in einem Boot. Amendola hielt eine riesige Forelle hoch und wirkte absurd zufrieden mit sich selbst. Im Wasser des Sees spiegelte sich unverkennbar der Mount Rainier, der im Licht der untergehenden Sonne rot glühte.
Endlich ein winziger Einblick in das Privatleben dieses Mannes. Sie schloss die Augen und beschwor Williams Gesicht herauf. Er lächelte geheimnisvoll. Sie verstand das Lächeln, wie es immer gemeint gewesen war: Die Antworten lagen vor ihr, und sie musste ihr Köpfchen benutzen, um sie zu entschlüsseln. Williams strenge Haltung tröstete sie. Obwohl sie sich auf unterschiedlichen Ebenen befanden, hatte sich nichts geändert. William war noch immer William.
Amendolas Computer war durch ein Passwort geschützt. In seinem Aktenschrank hing eine Reihe von Mappen mit Steuerangelegenheiten. Sie begann, den Müll auf seinem Schreibtisch zu durchsuchen. Rechnungen, Kontoauszüge, Werbebriefe.
Und dann, ganz unten in dem Stapel, fand sie etwas.
Es war ein Umschlag mit einem Zeitungsausschnitt, der zwei Jahre alt war. Ein Lokalblatt aus Olympia erzählte die Geschichte von Jon Amendola und Daniel MacNamara, die auf dem Weg zum Gipfel des Mount Rainier einen verunglückten Kletterer gerettet hatten. Eine körnige Fotografie bestätigte Julia, dass Amendolas Kletterpartner derselbe Mann wie auf den anderen Fotos war. Ein Post-it klebte auf dem Ausschnitt. Auf dem
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