Lust und Gefahr
gewesen. Er hatte ihre E-Mail-Adresse herausgefunden und sich schnell zu dem Lichtblick in ihrem trostlosen Leben entwickelt. Er war der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der sie verstanden hatte. Ihr wahrer Seelenverwandter.
Es hatte monatelang gedauert, bis sie endlich den Mut gefasst hatte, doch schließlich hatte sie sich von ihm aus dem Wahnsinn retten lassen. Hatte sich von ihrer kalten, gefühllosen Mutter befreien lassen und von dem reichen, aufgeschwemmten Lustmolch von Stiefvater mit den gierigen Augen und den wandernden Händen.
William hatte ihr eine vollkommen neue Welt, ein anderes Universum gezeigt. Seine innere Kraft hatte sie elektrisiert. Er hatte ihr einen neuen Namen, ein neues Gesicht gegeben. Ein neues Leben.
Sie hatte ihm gehört. Ganz und gar. Er war ihr Leben.
»Was kann ich tun?«, hatte sie gefragt. »Mein Geliebter.«
Er hatte sie angeblickt. Seine Augen waren düster gewesen. »Nur eine Sache, Jule«, hatte er geflüstert. »Alles, worum ich dich je bitten werde.«
»Ich tue alles für dich«, hatte sie versprochen. »Alles, William.«
Er hatte seine Hand gehoben und die Handfläche gegen die kühle Scheibe gepresst. AMENDOLA hatte er in seine Haut geritzt, in gezackten, blutigen Buchstaben. Sein Blut hatte an der Glasscheibe geklebt.
Aufregung hatte sie ergriffen, als sie es gesehen hatte. Sie hatte sich so sehr gewünscht, diesen Polizisten zu bestrafen, der ihr Leben zerstört hatte. Doch William hatte ihr verboten, das Risiko einzugehen, entlarvt zu werden. Jon Amendola vom PPD war der Grund, warum sie nicht mit William zusammen ihre sechste Bewerberin befreien konnte. Sie hatten das Mädchen sorgsam ausgewählt. Blond, hübsch und klug wie Julia. Sie war im College von Party zu Party getanzt. Und sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie ihren Körper hinter sich lassen und mit dem Engel des Todes fliegen sollte.
Sie hatte langsam genickt. »Ja. Gern.« Sie hatte es kaum erwarten können. Williams unergründliche blaue Augen hatten aufgeleuchtet. »Mach es langsam.« Er hatte die Worte mit den Lippen geformt. »Und schmerzhaft.«
Wieder hatte sie genickt, ohne den Blick von ihm zu wenden. Sie war eins mit ihm gewesen. Und dann war die Besuchszeit zu Ende gegangen. Sie hatten sich die ganze Zeit nur angesehen.
Bis sie ihn abgeführt hatten, waren ihre Blicke miteinander verwoben geblieben. Also hatte sie eine Aufgabe zu erledigen. Die enorme Verantwortung hatte sie elektrisiert und die lange Fahrt nach Hause über wach gehalten. Aber er hatte ihr nicht gesagt, dass er sie für immer alleinlassen würde. Das war grausam.
Julia schloss die Augen, um den blinkenden Anrufbeantworter nicht mehr sehen zu müssen. Die blutigen Buchstaben hatten sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. AMENDOLA.
Sie ging in ihr Schlafzimmer und zog sich aus. Langsam schritt sie in das Zimmer, das William und sie für ihre Rituale benutzt hatten. Sie machte den Kronleuchter an und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Still bewunderte sie die Schönheit der aufwendig ineinander verschlungenen Narben. Sie war ein lebendiges Kunstwerk. William hatte sie erschaffen – mit Messern und Feuer.
Sie war sein Vermächtnis, sein Meisterwerk.
Amendola würde bezahlen. Zuerst würde sie seine Frau oder seine Freundin umbringen. Dann würde sie ihm den schlaffen, zerstörten Körper wie Müll vor die Füße werfen. Und wenn sie ihn schließlich tötete, wäre er innerlich schon längst gestorben.
Williams Gesicht nahm vor ihrem inneren Auge Gestalt an. Freude erfüllte sie. Mit einem Mal kam ihr die Erkenntnis, dass er jetzt frei war. Wahrhaftig frei. Befreit von der Last seines Körpers. Frei, um sie zu führen.
»Mach es schmerzhaft.« Sie war von einem Meister gelehrt worden, der die Komplexität des Schmerzes kannte.
Stufe um Stufe der Qual, die die Seele veränderte.
»Mach es schmerzhaft.«
O ja. Das würde sie tun. Und in ihrem Kopf lächelte William ihr zu.
4. KAPITEL
F lügel schlugen. Leuchtende Augen, ein gebogener Schnabel, ein Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Messerscharfe Krallen, im Sturzflug auf die Erde …
Und er blickte auf die junge Frau hinab, am Boden gefesselt, der nackte Körper kaum noch als menschlich zu erkennen. Ihr Mund stand offen. Darin das verräterische Funkeln eines zartblauen Eis. Das Ei des Rotkehlchens.
Das Mädchen schlug die Augen auf. Entsetzen ließ sein Herz einen Schlag lang aussetzen.
Robins große braune Augen. Weit aufgerissen,
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