Lustnebel
Schneider war. Die Summe schien ihr ungewöhnlich hoch, doch es ging sie nichts an, wenn Chayton sich übervorteilen ließ.
Sie zog an den Schubfächern und gab schließlich frustriert auf, weil jede einzelne Schublade verschlossen war. Rowena hob ihren Kopf und zuckte mit den Schultern, sie wollte gehen, als ihr ein vergessener Briefbogen unter dem Schreibtisch auffiel. Sie bückte sich danach. Im dämmrigen Licht, beschattet vom Tisch, entzifferte sie eine kaum leserliche Auflistung ominöser Gegenstände. Medizin? Oder Pflanzen? Die Notiz wirkte, als wäre sie in aller Eile verfasst worden, und obendrein hatte der Verfasser nicht sonderlich Wert auf Sauberkeit des Schreibens gelegt. Dicke Tintenflecken verunzierten das Blatt. Sorgsam legte sie das Pergament an den Fundort zurück und ging an Betsy und Tobias vorbei hinaus in den Flur.
„Ich habe genug gesehen, Tobias, verschließ die Tür“, wies sie den Mann an, der zu gern ihrem Wunsch nachkam. Die Erleichterung strömte förmlich aus jeder seiner Poren. Rowena ließ sich anstecken von der Mischung aus Angst und Nervosität der beiden.
Sie reichte Tobias das versprochene Geld und nickte Betsy zu. „Bring Tobias wieder hinaus. Ich benötige dich heute Abend nicht mehr“, erklärte Rowena zerstreut.
Betsy zögerte einen Moment. „Seid Ihr sicher, Lady Rowena?“
Rowena machte eine auffordernde Geste. „Natürlich, geh ruhig.“
Sie beobachtete die beiden, wie sie in Richtung Dienstbotentreppe davoneilten, und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück.
Dort streifte sie den Morgenmantel ab, erleichtert, ein Korsett zu tragen, das sie alleine ablegen konnte, und begann, sich zu entkleiden. Anschließend legte sie sich ins Bett und starrte an die Decke. Noch während sie glaubte, keinen Schlaf finden zu können, driftete ihr Bewusstsein davon. Im Halbschlaf hörte sie, wie Betsy in das Zimmer schlich und sich schlafen begab. In den frühen Morgenstunden vernahm sie das Klappern von Hufen und eine Kutsche, die vor dem Haus Halt machte. Türen öffneten und schlossen sich, und Rowena fiel erneut in Tiefschlaf.
Das nächste Mal erwachte sie, weil die Tür des Nebenraums zugeschlagen wurde. Chayton war zurückgekehrt. Er fluchte lautstark in einer fremden Sprache, und eine zweite Stimme redete in Englisch, aber zu leise, als dass Rowena es hätte verstehen können, auf ihn ein.
Benommen wälzte sie sich noch eine Weile im Bett herum, ehe sie beschloss, aufzustehen. Eine Tasse Kaffee oder Tee täte ihr gut und weckte gewiss ihre Lebensgeister. Sie richtete sich gähnend auf und reckte sich ausgiebig. Als sie zum Fenster sah, erkannte sie die violettäugige Katze auf dem Sims hocken. Sie starrten sich beide an, die Katze wissend, Rowena ungläubig. Wie gelangte das Tier dorthin? Die Hauswand war glatt, ohne Vorsprünge, die einzige Möglichkeit für den Stubentiger, auf das Fensterbrett zu gelangen, war über das Schlafzimmer. Hatte es sich unbemerkt eingeschlichen und war dann beim Lüften hinausgeklettert?
„Du armes Kätzchen!“ Rowena sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Die Katze machte einen Satz und hüpfte vom Sims. Rowena stürzte nach vorn und suchte den Boden nach dem Tier ab, doch es war verschwunden. Stirnrunzelnd hob Rowena den Kopf. Offenbar stimmte die Sache mit den neun Leben einer Katze.
Sie erstarrte. Auf der anderen Straßenseite stand eine Gestalt im Schatten der Häuserwände. Der weite Kittel und der Hut mit der tellerförmigen Krempe wiesen ihn als Landarbeiter oder ähnliches aus, doch dagegen sprach die silberfarbene Maske, die sein Gesicht verdeckte. Eisige Schauer rasten über Rowenas Wangen. Ihr Mund öffnete sich ohne ihr bewusstes Zutun zu einem Schrei, doch ihrer Kehle entwich nichts weiter als ein heiseres Ächzen. Ihre Knie wurden butterweich, doch zugleich fühlte sich ihr Rücken an, wie von einem eisernen Korsett umfangen. Hilfe suchend stützte sie sich am Marmorsims ab. Silbermaske fixierte sie. Sie konnte das Gesicht verständlicherweise nicht erkennen, doch die Kälte in den Augen löste wilden Aufruhr in Rowena aus.
Er hatte sie gefunden! Claires Mörder lauerte vor ihrem Haus!
Endlich kam wieder Leben in Rowenas Gliedmaßen, und sie wich zurück. Sie stolperte neben das Fenster und ließ sich gegen die Wand sinken. Ihr Herz stolperte und jagte durch ihre Brust. Noch immer wallte Panik in Schüben durch ihren Körper.
Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, auf die Wand vor sich, versuchte wieder zur Ruhe zu
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