Lustnebel
hierzulande nicht erfahren konnte. Rowena wollte die Redseligkeit Chaytons nicht ungenutzt verstreichen lassen. Immerhin waren sie durch die Heirat aneinander gebunden. Es war nur logisch, dass sie ihn besser kennenlernte. Sie klopfte neben sich.
„Erzähl mir mehr von deiner Art zu leben“, forderte sie ihn auf.
Chaytons Miene erhellte sich, und er ließ sich neben ihr nieder. Sein Jackett lag noch auf dem Boden, und sein Hemd stand am Kragen offen. Er schob die Ärmel zurück.
„Der Rote Pfad erfordert die Einhaltung der Tugenden: Mitleid, Geduld und Selbstkontrolle, Weisheit, Tapferkeit, Bescheidenheit, Großzügigkeit, Respekt gegenüber der Schöpfung. Ein Lakota glaubt, dass alles miteinander verwandt ist. Stein, Pflanze, Erde, Gestirne, Elemente, Tiere und Menschen. Wir alle sind einander verbunden und Teil der kosmischen Ordnung.“ Er betrachtete sie aufmerksam.
Rowena nickte langsam. „Interessante Denkweise. Aber Steine? Und Mond und Sterne?“
„Alles“, bekräftigte Chayton. „Alles hat eine Seele. Es wäre vermessen zu glauben, nur wir Menschen hätten eine Seele und ein Leben.“
„Die Art der Lakota unterscheidet sich sehr von der unseren“, überlegte Rowena. Sie lächelte Chayton bedauernd zu. „Vermisst du deine Heimat?“
„Es gab nichts, das mich dort hielt. Also entschied ich mich dazu, mein englisches Erbe anzunehmen.“
Sie musterte ihn interessiert. „Fühlst du dich nicht fremd hier?“
Chayton verneinte. „Es ist anders. Anders bedeutet aber nicht schlechter“, stellte er richtig.
Rowena griff nach seiner Hand. Groß und dunkel traf auf klein und hell. Sein Griff war fest und warm. Sie lächelte und sah ihm ins Gesicht.
Er beobachtete sie forschend. „Möchtest du mehr über die Art der Lakota lernen?“
Von draußen näherten sich Schritte.
„Was meinst du, Chayton?“
„Mein Volk nennt es Inipi. Ihr würdet es als Schwitzhüttenritual bezeichnen“, erklärte er.
„Mylord?“ Cains Stimme drang durch die Zeltwände. „Seid Ihr im Zelt?“
Chayton blickte zum Zelteingang. „Ich komme heraus, Cain. Nur einen Moment“, rief er, ehe er sich erhob. Er sah sie an. „Du musst dich nicht sofort entscheiden, Rowena. Es ist auch in Ordnung, solltest du Angst haben.“ Er schenkte ihr ein provozierendes Lächeln.
Rowena stand auf. „Ich habe keine Angst. Sag mir nur, wann und wo“, konterte sie und warf ihren Kopf selbstbewusst in den Nacken.
Chayton nickte und steuerte auf den Zelteingang zu. „Egal, was du vorhin hier zu finden hofftest: Es gibt in diesem Zelt nichts, das dich interessieren könnte“, erläuterte er abschließend, ehe er hinausging.
Empört schnappte sie nach Luft, doch noch ehe sie ihm eine passende Bemerkung an den Kopf werfen konnte, hatte er das Tipi verlassen.
Sie schürzte die Lippen. Dieser Schuft!
Rowena saß am Fenster und stickte, als Cain leise eintrat.
„Lady Windermere? Unten warten etliche Leute und wollen mit Euch oder Eurem Gemahl sprechen.“
Verwirrt blickte sie ihren missgestalteten Butler an. „Leute? Was für Leute?“
Cain hob die Hände. „Aus Finsthworth, soweit ich richtig informiert bin.“
Rowena legte ihr Stickzeug beiseite und sprang auf. „Aus der Stadt!“ Freude durchzuckte sie. Sollten sich tatsächlich Arbeiter gefunden haben, die auf Barnard Hall Hand anlegen wollten?
Sie richtete ihren Rock und lief hinunter in den Hof, wo sich rund zehn Männer und fünf Frauen aufhielten. Als sie Rowena erblickten, rissen sich die Arbeiter die Mützen vom Kopf, und die Frauen knicksten. Sie waren allesamt sauber, aber ärmlich gekleidet und unterschiedlichsten Alters.
„Ihr kommt nach Barnard Hall, um zu arbeiten?“, erkundigte sich Rowena.
Das Landvolk warf sich unsichere Blicke zu, bis der Älteste in der Runde vortrat und die Rolle des Sprechers übernahm.
„Man sagte uns, Ihr suchtet Leute, um das Herrenhaus auf Vordermann zu bringen“, sagte er.
Rowena nickte. „Das ist richtig.“
Sie musterte die Anwesenden und überlegte, was als Erstes zu erledigen wäre.
Wenig später hatte sie die Männer und Frauen mit Arbeiten betraut und beaufsichtigte gemeinsam mit Cain die Arbeit.
Chayton trat unbemerkt hinter Rowena und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie stand in der Eingangshalle und beobachtete die Arbeiter und Arbeiterinnen, wie sie Möbel heruntertrugen.
Sie zuckte zusammen, weil sie Chayton nicht hatte kommen hören, und wandte sich an zwei Männer, die eine komplett
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