Lustnebel
Nachbarn an. Rowena näherte sich von der Rückseite her und nutzte die Gelegenheit, an sich herunterzublicken. Ihr Schuhwerk hatte gelitten, doch bestimmt wäre es nicht weiter dramatisch, mit dreckigen Lederschuhen vor der Tür zu stehen, wenn man zu Fuß unterwegs war. Ein Blick auf ihren Rocksaum bewies ihr, dass sie in der Tat nicht halb so wild aussah, wie sie befürchtete. Zudem erwartete auf dem Land niemand hundertprozentig korrektes Aussehen. Vor allem nicht nach einem strammen Spaziergang. Sie blieb stehen und verschnaufte ein Weilchen. Den Rand des Gartens säumten Pflanzen, die Rowena fremd waren. Sie gefielen ihr. Die Blüten sahen aus wie zartgelbe Fanfaren. Vielleicht konnte sie für die Beete Barnard Halls dieselben Büsche besorgen. Sie machten sich bestimmt gut am Grünzeug des Labyrinths.
Die weißen Sprossenfenster zierten Spitzengardinen, und in den unteren Räumen spiegelte sich goldenes Kerzenflackern. Hinter einem der Fenster waren Bewegungen auszumachen, und als Rowena näher kam, hörte sie ein Stöhnen.
Sie zögerte, doch als sich die Geräusche zu Schmerzenslauten steigerten, konnte Rowena ihre Neugier und Sorge nicht bezähmen und trat an das entsprechende Fenster.
Ein nackter Hintern war das Erste, das sich ihr ins Blickfeld schob. Sie schluckte. Der Männerpo war straff und gehörte einem Herrn, der die Mitte seines Lebens bereits erreicht hatte. Er lag auf einem Tisch, die Hosen baumelten an den Knien, und die Haut auf seinem Hintern war von roten Striemen gezeichnet. Hinter ihm stand eine Blondine in einem fließenden Gewand, wie man es vor zwanzig Jahren getragen hatte, als George IV. England regierte. In der Hand hielt sie eine lange Weidenrute. Sie holte aus und versetzte dem Mann mehrere schnell aufeinanderfolgende Schläge. Er gab jaulende Schreie von sich, die sich zu einem Schluchzen steigerten.
„Mehr!“ Selbst durch die Scheibe drang sein heiserer Ruf.
Rowena riss die Augen auf. Was bedeutete das?
Die Frau zog durch und versohlte den Mann auf dem Küchentisch nach allen Regeln der Kunst.
Rowena stolperte rückwärts, verwirrt und verstört zugleich. Flagellanten. Alice und ihr Mann waren Flagellanten, das musste es sein. Rowena hatte unter vorgehaltener Hand davon reden hören. Sie zog sich weiter in den Garten zurück und dachte nach. Wollte sie nach dieser Beobachtung noch hineingehen und einen Höflichkeitsbesuch wahrnehmen?
Im selben Moment schämte sie sich, prüde und bigotte Anwandlungen zu haben. Natürlich hatten die Cuthberts Sex. Und sie wäre zutiefst erschüttert, verachte man sie und Chayton, weil sie ein reges Eheleben führten.
Sie brachte ihre Kleider in Ordnung, strich sich über die Haare und lief um das Haus herum zur Eingangstür. Sie holte noch einmal tief Luft, dann betätigte sie den Türklopfer. Das Geräusch war laut genug, Tote zu erwecken.
Geduldig wartete Rowena, bis sie leichte Schritte hörte. Zu ihrem Erstaunen erschien Alice Cuthbert an der Tür.
„Lady Windermere, welch Freude, dass Ihr den Weg zu uns gefunden habt!“ Alice strahlte, als wäre Rowena eine lange vermisste Familienangehörige. Sie öffnete die Tür weit und ließ Rowena eintreten. Ein Hauch abgestandene Luft wehte ihr entgegen. Das Landhaus erwies sich bescheiden. Es war keine der opulenten Villen, in denen Rowena bislang zu Gast gewesen war.
„Gebt mir Euer Cape“, bat sie Rowena. „Ihr müsst entschuldigen, unsere Haushälterin hatte beim Gardinenabhängen einen Unfall. Nun hat die Ärmste ein gebrochenes Bein, und ich muss den Haushalt führen, bis wir passenden Ersatz engagiert haben.“ Alice lachte.
„Wie unangenehm!“, bedauerte Rowena die Frau.
Alice berührte sie am Arm, nachdem sie die Pelerine an die Garderobe gehängt hatte. „Kommt, ich führe Euch in den Salon“, forderte Alice Rowena auf.
Rowena nickte und folgte ihr den Gang entlang bis zu einer Tür, und Alice ließ Rowena den Vortritt. Der Raum mutete kuschelig an. Ein kleiner Salon in Rosa und Gold und mit dunklen Holzmöbeln. Sehr weiblich, doch da stand ein Servierwagen mit Whisky und Brandy und sehr maskulin wirkenden Gläsern.
„Bitte setzt Euch, Mylady. Ich bringe uns Tee und frisch gebackene Scones“, erklärte Alice Cuthbert.
Sie glitt aus dem Raum. Rowena nutzte die Gelegenheit und sah sich um. Das Zimmer war keiner dieser überfrachteten Salons, die im Ton so häufig zu finden waren. Die Zweckmäßigkeit der Ausstattung überraschte Rowena nur teilweise, kannte sie doch
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