Lustvolles Erwachen
überprüfen.«
Diccan massierte sich die Schläfen. »Ich werde Grace eine Nachricht schicken, dass ich spät nach Hause komme.«
»Du wirst Grace überhaupt nichts schicken.«
Diccan sah seinen Freund und Mentor an und fluchte. Natürlich hatte Marcus recht. Er konnte Grace nichts sagen. Er konnte ihr gegenüber nicht einmal die nötigste Höflichkeit zeigen. Er gefiel sich selbst weniger und weniger.
In dieser Nacht fand Grace keinen Schlaf. Unentwegt horchte sie in die Stille hinein auf Diccans Schritte und kam sich albern vor. Sollte so ihre Ehe aussehen? Sollte sie ewig darauf warten, ob ihr Mann nach Hause kommen würde? Sie hätte sich gewünscht, es würde ihr nichts ausmachen. Aber das tat es. Sie war an einen Mann gebunden, der sie niemals schätzen würde. Einen Mann, der sie eher als aide-de-camp, als Adjutanten, denn als Geliebte betrachtete.
Oh, sie konnte nicht von ihm erwarten, sie zu lieben. Doch plötzlich, hier in der drückenden Stille des fremden Zimmers, wünschte sie sich, dass er sie brauchte. Dass er sie vermisste, wenn sie nicht da war, und dass er sich freute, wenn sie zurückkehrte. Sie wollte zu ihm gehören.
Und das quälte sie am meisten. Nicht dass sie zu jemandem gehören wollte. Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, es sich jemals so … heftig gewünscht zu haben.
Sie konnte es nicht verstehen. Natürlich sah er gut aus; er war geistreich und intelligent, ehrenhaft und oft auch nett. Doch das waren die meisten Offiziere ihres Vaters auch. Was war das gewisse Etwas, das ihn von den anderen unterschied? Warum war sie ausgerechnet für Diccan Hilliard so anfällig? Und wohin konnte das führen?
Wahrscheinlich würde er sie niemals nahe genug an sich heranlassen, um das herauszufinden. An diesem Abend hatte er das mehr als deutlich gemacht. Seine Ehe würde ein Spiegel seiner Gesellschaft sein – höflich und freundlich, mehr nicht. Keine Überraschungen, keine Träumereien. Keine Lektionen aus den Zenanas.
Es war dumm zu fragen, ob sie sich damit zufriedengeben konnte. Selbstverständlich würde sie es müssen. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie wünschte sich nur, noch etwas in sich zu haben, etwas von ihrem eigenen Ich, das ihr Hoffnung geben würde. Wie Schätze, die sie in einem leer stehenden Haus aufbewahrte und die ihre werden würden, wenn sie nur geduldig blieb und lange genug wartete. Schätze wie Unabhängigkeit, Frieden, Schönheit. Aber sie würde diese Ehe niemals hinter sich lassen. Sie würde nie die Tage zählen können, bis das alles vorbei war. Es würde erst vorbei sein, wenn sie tot war. Und sie musste einen Weg finden, um sich darauf einzustellen. Um sich auf ihn einzustellen.
Ungeduldig mit sich selbst, trat sie ans Fenster, das zum Green Park hinausging. Es war finster. Nur ein paar Gaslaternen vertrieben das Dunkel der Nacht. Es war selbst für die feine Gesellschaft zu spät, um noch unterwegs zu sein, also war sie überrascht, als sie auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen sah, der zu ihr hinaufblickte.
Eine Sekunde lang erstarrte sie. Er sah aus wie ein Gentleman, doch er trug keine Abendgarderobe. Er lächelte, als würde er an etwas Lustiges denken. Und er beobachtete sie, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hände in den Taschen. Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken rieselte. Beobachtete er das Hotel oder gezielt sie? Es war kein Zufall gewesen, dass er sie erblickt hatte, denn er hatte schon in ihre Richtung gesehen, als sie ihren Vorhang im zweiten Stock zugezogen hatte. Hatte er vielleicht irgendetwas mit Diccans Mission zu tun? Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, zog sie den Vorhang wieder zu und beschloss, Diccan Bescheid zu sagen, wenn sie ihn sah. Wann auch immer das sein würde.
Als sie und Schroeder am nächsten Tag ihre Garderobe aussortierten, war er noch nicht zurück.
»Nehmen Sie sich, was Sie möchten, Schroeder«, sagte sie ihrer Zofe, während sie ihre grauen Kleider ordentlich zusammenfaltete und aufs Bett legte. »Sie können gern alles verkaufen. Ich werde nur ein paar Kleider für das Militärkrankenhaus aufbewahren.«
Grace fuhr mit dem Finger über das Kleid, das sie am Tag zuvor getragen hatte, als sie bei einem Jungen Wache gehalten hatte, der an einer Infektionskrankheit starb. Sie konnte noch immer sehen, wie glasig und fern sein Blick gewirkt hatte, konnte noch immer hören, wie der Tod an seiner Brust gerüttelt hatte. Sie konnte den Pesthauch
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