Luther. Die Drohung
gerade werden.
Das Baby beginnt zu wimmern, als Henry vom Bettchen weggeht. Sein
Weinen ist leise und leiernd, feucht in der Kehle und nicht so laut, wie er
befürchtet hatte. Aber es ist durchdringend, ein dünner Ton, der durch Wände zu
schneiden scheint wie ein Draht durch Käse.
»Isjaguuut, kleines Baby«, sagt er. »Isjaguuut.«
Er verlässt das Zimmer. Sein Herz schlägt schwach und bange in
seiner Brust. Er eilt hinunter in die Küche. Sie ist vor Kurzem so gründlich
geschrubbt worden, dass der Gestank des Putzmittels ihm in den Augen brennt und
er gezwungen ist, ein Fenster zu öffnen.
Er greift in den Kühlschrank. Darin sind zwölf oder dreizehn
sterilisierte Fläschchen Muttermilchersatz aufgereiht.
Henry nimmt eine Flasche heraus und wärmt sie kurz in der
Mikrowelle. Er prüft die Temperatur an seinem Unterarm, dann eilt er die Treppe
hinauf, den stockenden, aber kräftiger werdenden Schreien seiner neuen Tochter
entgegen.
Luther geht zu Benny, der sich an Ian Reeds Arbeitsplatz
eingerichtet hat.
Reeds Reserve-Sakko, Krawatte und Hemd hängen innen an der Tür, noch
im Zellophan der chemischen Reinigung. In Reeds Schreibtischschublade liegt ein
Wasch- und Rasierset: Seife, Einwegrasierer, Deo, Feuchtigkeitscreme für
empfindliche Haut.
Benny ist bereits umgeben von leeren Energy-Drink-Dosen,
Kaffeebechern, Vitamintablettenfläschchen, halb aufgegessenen Eiweißriegeln.
»Wie läuft’s?«, fragt Luther.
»Langsam«, antwortet Benny. »Ich hab die Telefonverbindungen und die
geschäftlichen E-Mail-Accounts der Lamberts überprüft. Keine berufsbegleitenden
Flirts, soweit ich das überblicken kann. Nichts wirklich Interessantes.«
Luther zieht einen Stuhl heran. »Keine bei Facebook aufgetauchten
Jugendlieben?«
»Wir überprüfen jetzt gerade alle Freunde«, sagt Benny.
»Gut, aber das sind …«
»Fast dreihundert Leute.«
»Fast dreihundert Leute. Wir müssen dieses Baby heute finden.«
»Was soll ich dann machen?«
»Wenn wir ein Sexualverbrechen untersuchen, forschen wir
normalerweise nach Vorläuferstraftaten in der Gegend, richtig? Einen Anstieg an
Meldungen über Spanner, Höschenschnüffler, Unterwäschediebe, Exhibitionisten.
Aber es gab keinen Anstieg.«
»Okay …«
»Jemand mit einer so gestörten Sexualität«, erklärt Luther, »jemand,
der getan hat, was dieser Mann den Lamberts angetan hat, müsste uns also schon
bekannt sein, sehr wahrscheinlich ein Schizophrener aus der näheren Umgebung.
Aber das fühlt sich nicht richtig an, oder?« Er spielt mit der beigefarbenen
Tastatur seines Computers. Tippt QWERTZ. »Die Leute geben so viel von ihrem
Leben preis. Bei Facebook oder sonst wo. Es gibt so viele Informationen
darüber, wer wir sind, wie wir uns fühlen, was wir machen. Ich weiß nicht. Ich
will einfach sicher sein.«
Benny nickt, wendet sich seinem Bildschirm zu.
Zwei Sekunden später klopft Howie und kommt mit einer Mappe in der
Hand herein.
»Womb Raider«, sagt sie, während sie die Tür schließt. »Frauen, die
anderen Frauen die Kinder aus dem Bauch stehlen.«
»Ja, aber das hier war ein Mann.«
»Einen Moment bitte, Boss.«
Luther macht eine Handbewegung: Sorry.
»Normalerweise sind Womb Raider weiblich. Im Schnitt dreißig Jahre
alt. Meist keine Vorstrafen. Emotional unreif, zwanghaft, niedriges
Selbstwertgefühl. Versuchen, einen verlorenen Säugling zu ersetzen oder einen,
den sie nicht empfangen konnten.«
»Richtig«, sagt Luther. »Aber sie suchen sich auch leichte Beute.
Verletzliche und isolierte Frauen. Keine mittelständischen Eventmanagerinnen.«
»Genau. Aber ich bin Mr Lamberts Terminkalender durchgegangen. Jeden
Donnerstagabend um 19.30 Uhr hatten sie ein Treffen mit der, ich zitiere, USG.«
»Was ist die USG?«
»Also, wir wissen, dass Mrs Lambert lange Zeit wegen Unfruchtbarkeit
in Behandlung war. Mr Lambert ist Sozialpädagoge, also wissen wir auch, dass
sie auf Therapien und so was stehen. Da denke ich mir … USG: Unfruchtbarkeits-Selbsthilfegruppe ?
Ich gehe zurück zum ersten Eintrag, rufe die Nummer an, die er notiert hat …«
»Und?«
»Und ich lande bei der Clocktower Unfruchtbarkeits- und
IVF-Selbsthilfegruppe. Ich hab sie gegoogelt. Die Gruppe trifft sich weniger
als eine Meile vom Haus der Lamberts entfernt.«
»Und was heißt das jetzt?«
»Wenn man sich das Einzugsgebiet ansieht, leben dort Menschen mit
einem Einkommen, das weit über dem nationalen Durchschnitt liegt. Das trifft
wahrscheinlich auch auf die
Weitere Kostenlose Bücher