Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
weitere Fragen stellen, doch
Gabriel unterbrach sie mit einer Geste und sagte: »Du hast Benellis Brief gelesen. Halte dich daran.«
Catherine schluckte, dann fragte sie geradeheraus: »Wenn du als Engel
all das weißt, dann siehst du auch den Verrat im Vatikan. – Wer ist der
Verräter?«
Wieder bewegten sich Gabriels gewaltige Flügel und überzogen den
Acker mit heftigem Wind. »Ich weiß, dass es diesen Verräter gibt, aber
ich kann ihn nicht erkennen. Luzifer verbirgt ihn hinter seinen finsteren Schwingen.« Plötzlich horchte Gabriel auf. Dann sagte er: »Ich muss
jetzt gehen. Ich werde an anderer Stelle gebraucht. Auch du musst diesen Ort nun verlassen. Dunkelheit zieht auf.« Der Engel entfaltete seine
gewaltigen Schwingen und erhob sich über die irdische Welt.
Gleichzeitig löste sich die Vision vor Catherines Augen auf, und sie war wieder in dem schmalen, dämmrigen Gang im ›Turm der Winde‹.
Ben blickte sprachlos vom Judas-Evangelium auf, starrte seine Freundin
an, ließ das Buch fallen und hielt sie fest. »Catherine? Was ist?«
Catherine lehnte halb zusammengesunken an dem schweren Regal mit
den Folianten hinter ihr. Sie hatte das Gefühl, die Schlinge, die Judas
erdrosselt hatte, schnürte ihr den Hals zu. Ben wollte ihr helfen, sich auf den Boden zu setzen, doch sie richtete sich benommen auf. »Schnell,
verschließ den Schrank und nimm das Buch. Wir müssen hier raus! Wir
müssen sofort zu Seiner Heiligkeit!«
Ohne ein Wort steckte Ben den Band in die Innentasche seiner
Anzugsjacke und verschloss den Schrank. Sie eilten den schmalen Gang
zwischen den Regalwänden entlang, zurück zur Tür. Er klopfte an das
schwere Holz, damit Dominico ihnen von außen öffnen konnte. Nach
einem kurzen Moment hörten sie, wie der Schlüssel im Schloss
umgedreht und die schwere Tür langsam aufgezogen wurde.
»Sie haben Ihre Studien beendet?«, fragte der alte Bibliothekar ruhig. Er hatte die ganze Zeit auf einem Stuhl neben der Tür gesessen.
»Nicht ganz, Pater«, erklärte Ben. »Aber für heute ist es genug.«
Dominico nickte und verschloss die Tür. Dann führte er die beiden
Besucher den dunklen Weg zu seinem Schreibtisch zurück, wo er ihnen
die Taschenlampen wieder abnahm und sie verabschiedete.
Erneut eilten Catherine und Ben an den hohen, handgeschnitzten
Holzregalen in der Nähe des Turms entlang, in denen alle möglichen
Originalmanuskripte und Dokumente lagen, düstere Geheimnisse aus
den vergangenen Jahrhunderten. Die langen, dunklen Korridore des
Archivs schienen kein Ende zu nehmen.
»Raus mit der Sprache, Catherine«, sagte Ben schließlich, holte das rote Buch hervor und hielt es ihr hin. »Was hast du in dem Turm gesehen?«
»Die Geschichte, die Bedeutung dieses Buches. Deshalb müssen wir so
schnell wie möglich zu Seiner Heiligkeit.«
Ben packte sie am Ordensgewand und hielt sie zurück. Noch einmal hielt
er ihr das einzigartige Buch vor die Nase. »Soll das heißen, du glaubst, was hier drin steht?«
»Du etwa nicht?«
Er wirkte sichtlich zerknirscht. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben
soll, aber in jedem Fall geht mir das alles viel zu schnell. Sollten wir nicht erst einmal in Ruhe darüber reden?«
»Hier?«, gab Catherine ungläubig zurück und deutete mit einer knappen
Geste auf das sie umgebende Archiv. »Gabriel hat gesagt, wir müssen
hier schleunigst weg!«
»Gabriel?«
»Ben, hier wirken nicht nur menschliche, sondern auch übermenschliche
Mächte. Ich weiß, das alles ist ein ziemlich großer Schock, aber im
Augenblick haben wir keine Zeit für große Erklärungen. Lass uns
weitergehen. Bitte!«
Ben seufzte, zögerte. »Also gut. Aber dann will ich eine hieb- und
stichfeste Erklärung. Ich glaube dies alles nämlich nicht.«
»Die kriegst du. Versprochen!«
Ben eilte weiter durch das Halbdunkel des Archivs voran, Catherine
dicht hinter ihm. Sie hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis zum
Apostolischen Palast war, wo sich die päpstlichen Privaträume befanden.
Längst hatte sie jegliche Orientierung innerhalb dieses mysteriösen und
geheimsten Labyrinthes der Welt verloren.
Catherine war Ben gerade um die Ecke eines längeren Ganges gefolgt,
als dieser ohne Vorwarnung stehen blieb und sie fast in ihn
hineingelaufen wäre. Sie wollte schon fragen, ob er den Verstand
verloren habe, doch dann riss sie die Augen auf und sah die beiden
Schweizergardisten in ihren traditionellen Uniformen, die ihre
Hellebarden so
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