Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
sind gerettet«, sagte der Engel sanft. »Vorerst.«
Judas blickte nur kurz auf. »Was will er als Nächstes von uns, Gabriel?
Wie soll es weitergehen?«
»Nur Gott allein kennt Gottes Plan.«
»Dann wird es keine weitere Sintflut mehr geben?«
»Das Menschenopfer ist erbracht. Der neue Bund zwischen Gott und den
Menschen durch das Opfer der Zwölf besteht.«
»Du kennst Gott besser als ich …« Judas blickte in eine imaginäre Ferne, dann kehrten seine Augen zu dem Erzengel zurück. »Dieser neue Bund
… Wie viel ist er wirklich wert?«
»Mir scheint, du hast schon zu lange unter den Menschen gelebt.«
»Vielleicht habe ich das. Vielleicht haben wir alle das. Du und ich, wir kennen Gottes Zorn. Wie viel gilt dieses Opfer? Wie lange wird dieser
neue Bund halten?«
»Er wird halten bis zum Beginn des Weltgerichts.«
Judas holte tief Luft. Als schaute er in eine ferne Zukunft, sagte er:
»Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Krieg, Hunger, Pest und Tod.«
Er machte eine kurze Pause, dann fragte er mit Verzweiflung in der
Stimme: »Was ist mit Petrus? Du weißt, er ist nicht der Rechte für sein
Los. Was er sät, wird die Botschaft verfälschen.«
»Du weißt, die Finsternis regiert, und wir müssen sie durchbrechen. Der
Weg ist klar. Petrus ist der Fels.«
Schweren Herzens stimmte Judas zu und blickte auf das fast vollendete
Schriftstück, das vor ihm lag.
Gabriel sagte: »Ich werde dafür Sorge tragen, dass weder Marias noch
dein Zeugnis in der Geschichte der Menschheit verloren geht.«
»Dann bleibt die Verbindung zur Quelle, der Zwölferbund, also ein
Geheimnis«, stellte Judas müde fest.
Gabriel nickte. »Vorerst ja. Wir können nicht riskieren, dass auf der Erde das Gleiche wie im Himmel geschieht. Ein verheerender Krieg ist
genug.« Der Engel trat einen Schritt vor und nahm Judas behutsam den
Griffel aus der Hand. »Es wird Zeit.« Der Griffel zerfiel zu leuchtendem Staub. »Welchen Ort hast du für dein irdisches Ende gewählt?«
Judas schaute dem zur Erde schwebenden Staub nach. »Einen kahlen,
dürren Baum, hoch über Jerusalem.«
Gabriel nickte. »Ich werde an deiner Seite sein. Du wirst sie alle
übertreffen und in unsere Mitte zurückkehren. Das Dunkle in unserem
Herrn darf nicht siegen …«
Das Bild wechselte abrupt, und Catherine sah einen ausgemergelten, von
Wind und Wetter gequälten Baum, an dem der Leichnam Judas
Ischariots hing. Der Himmel war grau und düster, wie vor einem Sturm.
Über dem Baum wachte Gabriel, blickte auf den Toten hinab und sagte:
»Er hat das schwerste Los von allen getragen.«
»Warum all diese Opfer?«, brachte sie seufzend hervor. »Warum diese
Märtyrertode?«
Gabriel sank zu ihr herab und stellte sich neben sie. »Weil es die Sprache der Menschen ist. Weil sie sonst nicht wirklich verstehen.«
»Und das soll ich glauben?«
Die gewaltigen Flügel des Engels zuckten kurz und verstärkten den
Wind über dem Acker. Judas’ Leichnam pendelte wie ein Ast hin und
her. »Gott hat den Menschen nach seinem Abbild geschaffen. Du kennst
das Alte Testament.«
»So steht es geschrieben. Ja.«
»Es ist so. Ich bin ein Erzengel. Ich weiß.«
Gabriel machte eine kaum wahrnehmbare Geste, und Catherine blickte
auf eine gewaltige leuchtende Spirale, eine Galaxie in völliger
Dunkelheit inmitten des ›Turms der Winde‹. Gabriel demonstrierte ein
klein wenig von seiner Macht, gewährte ihr einen kurzen Blick aus
seiner übermenschlichen Perspektive. Catherine erinnerte es sofort an
Stephen Hawkings Buch Das Universum in einer Nussschale .
»Wenn du das Opfer der Zwölf anzweifelst, Catherine, dann zweifelst du
nicht nur den neuen Bund, sondern auch Benellis Opfer an. Luzifer hat
die Hingabe der Zwölf nicht gefallen. Er hat geahnt, worauf das Ganze
hinausläuft: auf eine stärkere Bindung zwischen den Menschen und
Gott.« Gabriel deutete auf den Leichnam von Judas Ischariot. »Er ist der wahre Erlöser. Wie auch Maria von Magdala eine Erlöserin ist. Doch
ihre Zeit wird erst später kommen.«
»Was hat Kardinal Benelli damit zu tun? Auch er hat wie Judas
Selbstmord begangen. Müsste er dafür nicht in der Hölle schmoren?«
Catherine war sich nicht sicher, doch glaubte sie ein Lächeln auf dem
Antlitz des Engels zu sehen.
»Gott richtet nach den Motiven, Catherine. Benelli hat als Apostel völlig selbstlos gehandelt.«
Apostel! Da war das Wort, das sie in diesem Zusammenhang nicht
einmal zu denken gewagt hatte. Sie wollte
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