Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
sie immer mehr Kraft verlor, schleppte sie sich
Schritt für Schritt voran, doch dann kippten ihr plötzlich die Beine weg, und sie stürzte zu Boden wie ein nasser Sandsack. DeRossi hatte sie
zwar am Arm gepackt, doch ihr Zusammenbruch war so abrupt
gekommen, dass auch er das Gleichgewicht verlor. Er ging vor ihr in die
Knie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Als das nicht genügte,
versetzte er ihr eine zweite und eine dritte, bis sie wieder halbwegs bei Besinnung war.
»Sie werden mir jetzt doch nicht schlappmachen, Schwester. So kurz vor
Ihrem ganz großen Auftritt.«
Catherine war zwar eine Nonne, aber sie hatte nicht schlecht Lust,
deRossi einen Zahn auszuschlagen, oder noch besser, ihm die Nase zu
brechen, was gut zu der Narbe über dem Auge gepasst hätte, doch sie
war einfach zu benommen, um auch nur halbwegs richtig zielen zu
können. Ganz davon zu schweigen, dass ihr die notwendige Kraft für
solch eine Aktion fehlte. DeRossi zerrte sie brutal hoch und zog sie
hinter sich her, weiter durch den schmalen, mit Kalk verputzten Gang,
eine enge Treppe hinauf bis zu einer Seitentür, die direkt in die
Sixtinische Kapelle führte.
Die Sixtina. Catherines Lieblingsort. Also doch …
Hier sollte sie sterben!
Halb betäubt ging sie ihre Optionen durch, zumindest versuchte sie es.
Ihr Gehirn war wie in ölverschmierte Watte gepackt, kaum zu einem
auch nur annähernd brauchbaren Gedanken fähig. DeRossi schob sie
vorbei an zwei Schweizergardisten, die bewusstlos, womöglich tot, links
und rechts von der breiten Eingangstür lagen. Dann dirigierte er sie wie eine lebensgroße Puppe durch den Vorraum, durch die Chorschranke und
stieß sie schließlich in den größeren Bereich der Kapelle, der bei
offiziellen Anlässen dem Klerus vorbehalten war. Am anderen Ende der
Sixtina, direkt vor dem Altar, stand ein Mann in schwarzer Soutane und
mit scharlachrotem Birett. Er war klein und hatte Catherine und deRossi
den Rücken zugekehrt. Seine ganze Aufmerksamkeit schien
Michelangelos Jüngstem Gericht zu gelten, als suche er dort
irgendetwas, ohne es jedoch zu finden.
»Eminenz«, sagte deRossi respektvoll. »Schwester Catherine Bell.«
Der Kardinal drehte sich langsam zu ihr und ihrem Begleiter um.
»Danke, Nicola. Schwester Catherine, schön Sie so bald wiederzusehen.
Ich habe unsere letzte Begegnung bei Benelli sehr genossen.«
So benommen Catherine auch war, der Schock ging durch jeden Muskel,
jede ihrer Zellen und sorgte augenblicklich für eine gewisse
Ernüchterung. Sie stand da wie hypnotisiert und konnte nicht anders, als Kardinal Monti mit großen Augen anzustarren.
81.
Catherine blickte wie gebannt von Kardinal Monti zu Michelangelos
Apokalypse und zu dem alten Präfekten zurück. Er war ein Greis, ein
kleines, hutzeliges Männlein, das die Kardinalsrobe trug, doch in diesem Moment wirkte er so unendlich gefährlich und mächtig wie ein Dämon,
wie ein unerklärlicher Anachronismus, der gerade erst aus
Michelangelos Höllenszenario herausgetreten war. Catherine wusste
nicht, ob es an der Droge lag, aber die Bilderflut hinter Monti schien zu leben. Die üppigen nackten Figuren darin beobachteten sie, bewegten
sich, als hätte der alte Kardinal eine teuflische Macht über sie. Zwei
Engel trugen das großformatige, tonnenschwere Buch der Verdammten.
Der alte Monti trat mit erstaunlich kraftvollen Schritten auf Catherine zu, mit einem Lächeln, als hätte er das Ende der Welt kraft seines Geistes
gerade selbst mit aller Pracht inszeniert.
»Die bedeutendste Kapelle der Christenheit«, sagte er. »Hier werden die
Päpste gewählt. Hier wird der Heilige Vater in das letzte aller
Geheimnisse eingeweiht, und dies, obwohl das Geheimnis im Grunde für
alle offenkundig ist.«
Er blieb stehen, schaute sich mit flammendem Blick in der Sixtina um,
betrachtete schließlich die Gemälde vom Leben Jesu und sagte mit
krächzender Stimme: »Der Jesus-Mythos hat uns in der Tat einen guten
Dienst erwiesen. Seit zweitausend Jahren lenkt er die Christenheit von
der eigentlichen Wahrheit ab. Dabei ist es so einfach: Der Mensch sieht
stets nur das, was er sehen will. Unumstößlich hält er an alten
Glaubenswahrheiten fest. Bestenfalls will er alten Wein in neuen
Schläuchen. Dabei könnte jeder Mensch ein Eingeweihter sein.« Monti
hielt kurz inne, atmete tief durch und fragte dann mit einem wissenden
Lächeln. »Wie haben Sie die Einweihung verkraftet, Catherine?«
Die
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