Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
als Christ das Recht, all diese Menschen zu ermorden?«
»Menschen?« Monti spie das Wort förmlich aus. » Das sind keine
Menschen!« Er zeigte auf das Altargemälde. »Haben Sie sich nie gefragt,
weshalb die Engel und Dämonen des Jüngsten Gerichts keine Flügel
haben? Ja, nicht einmal einen Nimbus tragen? Wo sind sie, die
hoheitsvollen, unnahbaren Himmelsboten? Und warum weichen Sie
meiner Frage aus?«
Catherine hätte den greisen Kardinal am liebsten gepackt und in hohem
Bogen aus der Kapelle geworfen. Ob mit oder ohne Flügel. Die Engel
standen für das Gute. So hatte sie in den Auren einiger weniger
Menschen sogar geflügelte Wesen erkannt. Oder Dämonen, wie in jenem
Lehrer an ihrer Grundschule, der mehrere Jungen ermordet hatte. Was
wusste Monti schon von diesen Wahrheiten? In seinem ganzen Leben
hatte er gewiss noch nie eine Aura, geschweige denn eine geflügelte
Seele gesehen. Sie würde sich nicht von ihm provozieren lassen.
»Mich interessiert nur die Antwort auf eine Frage …«, sagte sie stur.
Zeit. Alles, was sie brauchte, war Zeit. Irgendetwas geschah mit der
Kapelle, doch sie durchschaute nicht, was. Machte die Droge sie etwa
verrückt? »Warum haben Sie Darius, Thea und all die anderen ermorden
lassen?«
»Auch das ist nur zu offensichtlich«, erklärte Monti wie ein Richter, für den eigentlich schon alles entschieden war. »Auf schwache Päpste haben
die Apostel einen zu starken Einfluss. Mit Johannes XXIII. hat alles
angefangen.« Er hielt kurz inne. »Wussten Sie, dass Johannes der
häufigste Name unter den Päpsten ist?« Dann fuhr er munter fort: »Mit
Johannes Paul wurde es, trotz seines kurzen Pontifikats, schlimmer, und
mit Leo nimmt das Ganze die Ausmaße einer gewaltigen Katastrophe an.
Er wird die Kirche mit seinen obskuren Plänen und Reformen zugrunde
richten. Innozenz hat mich viele Jahre lang darauf vorbereitet, der Kirche den rechten Weg zu weisen. Genau das werde ich tun.«
Catherine starrte den Greis durch den dichten Nebel in ihrem Gehirn an.
Die ganze Sixtina schien in einem stetigen Fluss durch Raum und Zeit.
Fast wie in ihren Visionen. »Dafür wollen Sie die Apokalypse einleiten?
Ist das Ihr Ziel? Ist es das, was Sie mit den Morden erreichen wollen?
Dass die Menschheit vor Gericht gestellt wird? Ich kann nicht glauben,
dass Innozenz das gewollt hat!«
»Sie haben ja keine Ahnung, was auf dem Spiel steht, sonst würden Sie sich dem Überleben der Kirche nicht in den Weg stellen. Das Ganze war
von Anfang an ein abgekartetes Spiel, ein Deal zwischen Himmel und
Hölle. Ein Deal, der die Menschheit, die Kirche seit zweitausend Jahren
unterdrückt. Die Macht der Apostel muss ein für alle Mal gebrochen
werden!«
»So wie zu Zeiten des Hexenwahns?«
Monti stieß ein kurzes, krächzendes Lachen voller Verachtung aus. »Sie
verstehen nicht, Catherine. Sie wollen nicht verstehen! Er hat uns alle
reingelegt. Engel, Apostel, Märtyrer, Verdammte, Selige, ja, selbst den
Erlöser und die Heilige Maria!«
»Wer hat uns reingelegt?«
»Gott!«, schrie Monti. Seine Stimme klang in ihren Ohren plötzlich so
schrill wie eine Sirene. Voller Hass, voller Wahnsinn. »Gott!«,
wiederholte er. Dann wurde er schlagartig ruhig und blickte sie aus
seinen intelligenten, alten, verrückten Augen prüfend an, während hinter ihm, in dem Gemälde, die Menschen gen Himmel oder zur Hölle fuhren.
»Es wird Zeit, dass die Menschheit erwachsen wird und auf eigenen
Füßen steht. Sie haben nun die Wahl, Catherine. Wofür entscheiden Sie
sich? Für den Himmel oder die Hölle?«
Die junge Frau musste nicht über die Antwort nachdenken. »Ich bin ›die
Rebellin‹, Eminenz. Haben Sie das etwa vergessen?«
»Wenn ich das vergessen hätte, stünden wir beide jetzt nicht hier.« Er
kramte in seiner Kardinalsrobe, zog einen Umschlag hervor und warf ihn
ihr zu. »Auch Sie sind belogen worden, Schwester.«
Catherine bückte sich vorsichtig nach dem Umschlag, zog den Inhalt
heraus und hielt nach einem kurzen Blick auf das Foto und die
Aktennotiz den Atem an. Sie spürte, wie sie an Körper und Seele zu
zittern begann, wie ihr ein Stich mitten durchs Herz fuhr. Wie durch
einen dichten Nebel in ihrem Bewusstsein wurde ihr klar, dass dieser
Brief sie ihrer gesamten bisherigen Identität beraubte. Die Frau, die sie ihr Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte, war gar nicht ihre Mutter.
Sie, Catherine Bell, war ein Findelkind. Und Darius hatte es all die
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