Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
junge Frau starrte ihn einfach nur an, während die Droge ihr
weiterhin vorgaukelte, dass die Bilder an den Wänden der Sixtina lebten.
Gleichzeitig wankte der Marmorboden unter ihren Füßen. Es kostete sie
alle Willenskraft, nicht vor Erschöpfung zusammenzusacken. Monti
nahm von alldem natürlich nichts wahr, und deRossi, der hinter ihr stand, schien nur auf den nächsten Moment der Schwäche zu warten. Sie war
so hundemüde, so kraftlos, und doch sagte ihr irgendetwas tief in ihrem
Innern, dass sie Zeit gewinnen musste. Also stellte sie sich dumm. Was
ging es Monti an, wie Benelli sie Schritt für Schritt eingeweiht und was sie dabei empfunden hatte?
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie überhaupt sprechen, Eminenz.
Worauf wollen Sie hinaus?«
Der Kardinal musterte sie, neugierig, lauernd, misstrauisch, als erwartete er in ihrer Gegenwart jeden Augenblick eine Ungeheuerlichkeit, und
dennoch kam er nicht umhin, deutlicher zu machen, was er meinte.
»Nehmen wir zum Beispiel den Apostel Andreas.« Seine alte Stimme
zitterte leicht vor Erregung. »Er hat viele Wunder bewirkt, bevor er
gekreuzigt wurde. Und was ist mit Matthias, Judas’ Nachfolger? Er hat
in Judäa und dann in Äthiopien missioniert, wo er viele Wunder
vollbracht hat. Oder denken wir nur an Johannes, Jesu Lieblingsjünger.
Mit einem einzigen Wort hat er den Tempel zu Ephesus zerstört, dessen
toten Priester wiederauferstehen lassen und schließlich in Rom ein
Folterbad in siedendem Öl überlebt. Und Petrus? Er ist durch Kleinasien
und Griechenland nach Rom gezogen, hat Kranke geheilt und Tote
auferweckt. Das ist es, was ich meine, Schwester. Ein jeder Mensch kann es sehen, sofern er nur will, und trotzdem ist das Apostelmysterium ein wohlbehütetes Geheimnis.«
Er musterte Catherine mit einem spöttischen Blick. »Bei alldem hatten
die Apostel neben einem harten Leben auch noch einen harten Tod.« Er
drehte sich zu Michelangelos Altargemälde um und deutete auf
Bartholomäus, der seine eigene Haut in Händen hielt. »Es muss nicht
gerade angenehm sein, wenn einem bei lebendigem Leib die Haut
abgezogen wird. Oder wenn man wie Petrus kopfüber gekreuzigt wird.
Ganz davon zu schweigen, wie Simon mit einer Säge in zwei Teile
zerlegt zu werden … Selbst in einem modernen Horrorfilm erleben Sie
kaum mehr Folterqualen und Blutvergießen.«
Er drehte sich wieder zu Catherine um. Diesmal erschienen ihr seine
Bewegungen wie in Zeitlupe. »Aber wissen Sie, was das wirklich
Beunruhigende an dieser ganzen Geschichte ist? Dass es so gut wie
kaum einen Menschen interessiert. Gehen Sie in eine Fußgängerzone,
und fragen Sie die Leute nach den Wundern, die die Apostel vollbracht
haben, oder nach den Qualen, unter denen sie gestorben sind. Sie werden
keine einzige brauchbare Antwort erhalten …«
Lass ihn reden, dachte Catherine und versuchte sich weiter auf ihren
wackligen Beinen zu halten. Die strahlenden Farben der restaurierten
Kapelle um sie herum zerflossen, bildeten Licht- und Schatteninseln, als wollten sie sich zu neuen himmlischen und höllischen Bildern formieren.
Als sie merkte, dass Montis Redefluss zu versiegen drohte, sagte sie
benommen: »Sie haben Judas Ischariot nicht erwähnt.«
Der Kardinal starrte sie an, als hätte er sich verhört. »Wie bitte?«
»Judas. Sie haben Judas Ischariot nicht erwähnt. Jenen Apostel, dem Sie
Ihre Einweihung als ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation
verdanken. Jenen Apostel, der für das Geheimnis seinen Ruf als
aufrichtiger Jünger Jesu ruiniert hat. Ohne dessen Opfer es den neuen
Bund zwischen den Menschen und Gott nie gegeben hätte.«
»Papperlapapp. Judas’ offizielle Geschichte ist jedem Dummkopf
bekannt«, sagte Monti mit seltsamer Milde in der Stimme. »Doch nun zu
Ihnen, Schwester. Haben Sie sich nie gefragt, wer Sie eigentlich sind?«
Er trat einen Schritt näher, wahrte aber dennoch Distanz, als sei sie eine gefährliche, hochgiftige Schlange. »Darius war zeitlebens Ihr Mentor
und hat sich für Sie bei Gasperetti verbürgt. Benelli hat Sie als einzige Außenstehende in das Geheimnis eingeweiht. Innozenz hat um Ihre
Verurteilung einen großen Bogen gemacht. Leo hat Ihnen sein Leben
anvertraut. Selbst Ciban scheint es mit Ihrem Prozess nicht allzu eilig zu haben.« Er machte eine theatralische Pause. » Wer oder was sind Sie, Catherine? Ein Engel? Ein Dämon? Eine Art Super-Apostel?«
»Es spielt keine Rolle, wer ich bin. Doch wer gibt Ihnen
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