Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Auch Catherine war nicht dagegen
gefeit. Niemals hatte sie auch bloß den geringsten Zweifel an ihrer
Pflegemutter als biologische Mutter gehegt.
Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und musste bei dem
Gedanken an Darius lächeln. Sie hätte keinen besseren Ziehvater haben
können. Seit sie den Pater kennengelernt hatte, hatte sie sich nicht mehr verlassen gefühlt. Sie hatten sich von der ersten Begegnung an auf
wundersame Weise gut verstanden. Der geduldige, weise und väterliche
Gelehrte, der nichts erzwang und ihr dabei doch so viel beibrachte. Und
sie, das ängstliche, trotzige Kind, das erst einmal lernen musste, mit
seiner Gabe angemessen umzugehen.
Mentor und Schülerin. Ziehvater und Ziehtochter. Zwei verwandte
Seelen. Und nun …
Catherine holte die Fotografie hervor, mit der Monti versucht hatte, sie auf seine Seite zu ziehen, und betrachtete das Bild. Auf dem Foto wirkte Darius noch so jung, doch bei genauerem Hinsehen waren die Fältchen
um die Augen und auf der Stirn nicht zu übersehen, ebenso wie der
Ansatz von erstem Grau an den Schläfen. Seine Augen schimmerten wie
Quecksilber. Catherine war dieses Schimmern schon einmal aufgefallen,
während der Verhöre im Palast der Inquisition und vor kurzem in den
geheimen Archiven des Vatikans, als Ciban Ben und sie mit dem
Judas-Evangelium in der Hand gestellt hatte. Nicht zuletzt in der Sixtina, als Ciban deRossi niedergestreckt hatte. Der Kardinal hatte die ihrer
Hand entglittene Fotografie auf dem Marmorboden entdeckt, sie von
Bens Blut gereinigt und ihr mit den Worten überreicht: »Ich glaube,
dieses Foto gehört Ihnen, Schwester.«
Wie hypnotisiert hatte Catherine erneut auf die Aufnahme gestarrt. Dann
hatte sie den Präfekten gefragt: »Haben Sie es gewusst, Eminenz?«
»Nein«, hatte Ciban kopfschüttelnd gesagt.
»Meine Mutter … das Bild, das ich mir von meinem Vater gemacht habe
…« Sie hatte gestockt. »Ich weiß nicht mehr, wer ich wirklich bin.«
»Oh doch, das wissen Sie, Catherine. Darius hat es Ihnen gezeigt. Nun
beginne ich auch zu verstehen, weshalb Kardinal Benellis Plan nur so
und nicht anders funktionieren konnte.«
Catherine tauchte für einen Moment aus ihrem Rückblick auf, sah auf die
Bäume, die an den Wagenfenstern vorbeizogen, und steckte das Foto mit
einem leisen Seufzen wieder ein. Wer ihre leiblichen Eltern waren,
würde sie wohl niemals erfahren. Und Darius war tot. Unwiderruflich.
Dabei hätte sie noch so viele Fragen an ihn gehabt, so vieles über ihren Ziehvater wissen wollen. Die Gewissheit, keine Antworten mehr zu
erhalten, tat weh. Warum begriff man so etwas immer erst dann, wenn
die Menschen, die man liebte, tot waren?
»Wir sind gleich da«, sagte Rinaldo und lenkte den Wagen um eine
weitläufige Kurve.
Catherines Gedanken kehrten zur letzten Nacht zurück. Unmittelbar
nachdem Ben ins Krankenhaus abtransportiert und Monti und deRossi
fortgebracht worden waren, war ein Trupp Vigilanza-Polizisten
aufgetaucht, um sämtliche Spuren des Vorfalls in der Sixtina restlos zu
beseitigen. Nachdem Catherine sich von ihrem Schrecken halbwegs
erholt hatte, hatte Ciban sie zu ihrem Zimmer im Apostolischen Palast
zurückgebracht, und als sie dort angekommen waren, nahm er
freundschaftlich ihre Hand und sagte: »Ich weiß, es klingt hohl und leer, Schwester, denn Sie brauchen Zeit, um das alles zu verarbeiten …
dennoch … versuchen Sie ein wenig zu schlafen.«
»Was ist mit Ihnen?«
»Es liegt noch etwas Arbeit vor mir.« Ciban hatte mit den Achseln
gezuckt und sich ein kurzes Lächeln gestattet. »Sie werden es kaum
glauben, aber für den Notfall habe ich eine bequeme Klappliege in
meinem Büro. Ganz ohne Schlaf komme auch ich nicht aus.« Er hielt
kurz inne, als wollte er noch etwas Persönliches zu den Ereignissen
bemerken, doch dann gab er ihre Hand wieder frei und sagte lediglich:
»Gute Nacht, Schwester. Schlafen Sie gut, und träumen Sie etwas
Schönes.«
Keine zehn Minuten später hatte Catherine in tiefem Schlaf gelegen und
von Gott weiß was geträumt. Als sie aus ihrem Tiefschlaf wieder
erwacht war, hatte sie sich wundersamer Weise völlig erholt gefühlt.
Selbst jetzt, Stunden später, in der Limousine und auf dem Weg zur Villa Benellis, fühlte sie sich nach all dem Stress geradezu wie neugeboren.
Ihr Blick folgte dem letzten Waldstück. Als das Anwesen diesmal
zwischen den hohen Bäumen auftauchte, hatte es etwas Rätselhaftes
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