Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
ihrer
Gabe bediente, doch sie wagte es nicht, dies zu tun, aus Angst, den damit verbundenen Zauber unwiederbringlich zu zerstören. Möglicherweise
hatte die Verbindung zwischen Benelli, ihr und dem Papst sogar den
phantastischen Tagtraum initiiert, die kurze, prägnante Vision, die sie
gerade noch vor wenigen Minuten im Dachgarten gehabt hatte, als sie
mit dem Laptop an ihrem neuen Buch gearbeitet hatte.
In diesem Tagtraum war sie Teil einer Gruppe von Menschen gewesen,
Männer, Frauen und Kinder, die sich dem antiken Jerusalem von
Bethanien her über die drei Kilometer lange Jericho-Straße und den
Ölberg genähert hatte. Es war alles so real, so greifbar gewesen – bis zu Leos Attacke, die sie jäh über das Energieband aus ihrer Vision gerissen hatte.
»Ich werde Kardinal Ciban informieren«, sagte der Papst. Er ging zu
seinem Schreibtisch, griff zum Telefon und wählte über die
Kurzwahltaste die entsprechende Nummer im Palast der Inquisition.
Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten, dann legte er auf. »Jetzt heißt es warten, Schwester. Ich habe keine Ahnung, wer das jüngste
Mordopfer ist, aber ich fürchte, wir werden es schon sehr bald erfahren.«
43.
Kalkutta, Kirche in Motijhil
Als Pater Sam Raj wie jeden Morgen die kleine Kirche in Motijhil durch
die Sakristei hinter dem Hochaltar betrat, war das Erste, was ihm auffiel, der warme Kerzenschein. Am Abend zuvor hatten bei weitem nicht so
viele Kerzen in der Kirche gebrannt, doch jetzt war der ganze vordere
Altarbereich in ein warmes, fast zärtliches Licht getaucht.
Pater Raj umrundete den Bereich und erblickte eine auf dem Steinboden
liegende Engelsgestalt, umgeben von einem Meer an Kerzen. Die Gestalt
war in den blau-weißen Sari der Gemeinschaft gehüllt, in die
Ordenstracht der Missionarinnen der Nächstenliebe. Er hielt vor Schreck
den Atem an und schlug ein Kreuz.
»Schwester?«
Besorgt eilte der Pater auf die Ordensfrau mit den von sich gestreckten
Armen zu, doch die Kerzen verhinderten, dass er sich ihr sofort nähern
konnte, ohne sich dabei zu verbrennen. Er tastete sich an die erste
Kerzenreihe heran und glaubte zu hören, wie sich im restlichen
Halbdunkel der Kirche Dinge bewegten. War da etwa ein Stöhnen in der
Dunkelheit?
»Schwester!«
Die Nonne lag auf dem Boden und blickte zur Decke der kleinen Kirche
hinauf, als hätte sie gerade eine himmlische Vision. Pater Raj fürchtete die unheimlichen Geräusche und die Schatten, die die Kerzen auf den
kühlen Steinboden warfen, doch dann fegte er mehrere Reihen hinweg.
Während er das tat, fiel ihm auf, dass die Missionarin anscheinend gar
nicht mehr atmete. Auch wirkte ihr visionärer Blick ziemlich starr.
Schließlich erstarrte er mitten in der Bewegung, denn er erkannte das
Gesicht der wie ohnmächtig Daliegenden. Es war Schwester Silvia!
Hoch über ihr tanzte das Altarkruzifix in Schatten und Licht.
Als er die letzte Kerzenreihe zwischen sich und der Schwester entfernt
hatte, beugte er sich über die Nonne und lauschte nach ihrem Atem.
Nichts. Dann ergriff er ihren Arm und fühlte den Puls. Wieder nichts.
Pater Raj stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Er schlug ein
Kreuz, nahm Schwester Silvias kühle Hand in die seine, begann ein
Gebet und weinte.
44.
Flughafen Kalkutta
Monsignore DeRossi legte sein Handgepäck ins Fach und setzte sich auf
seinen Fensterplatz. Dummerweise war das Glas außen so verschmiert,
dass er die Welt jenseits des Flugzeugs bloß verschwommen erkennen
konnte. Ein gespenstisches, bleiches Licht schimmerte über das Rollfeld.
Es war nur die Morgendämmerung. Doch sie machte ihn nervös.
Er knipste die drei Leselampen über ihm an. Die Maschine war diesmal
nur zu einem Drittel besetzt, daher waren die Sitze neben ihm leer, und
es würde sich niemand beschweren. Im Lichtkegel der Lampe atmete er
tief durch und versuchte sich zu entspannen.
Beim Start wurde sein Körper gegen den Sitz gedrückt. Als die Maschine
abhob, erinnerte ihn das Gefühl prompt an jenen Augenblick, in dem
Schwester Silvia aufbäumend ihren letzten qualvollen Atemzug getan
hatte. Alles war nach Plan verlaufen, und doch hatte das Ableben der
Ordensfrau für deRossi eine einzigartige Überraschung bereitgehalten.
Er glaubte, eine mystische Erfahrung gemacht zu haben.
Schon die erste reale Begegnung mit Silvia in der kleinen Kirche – sie
hatte nach ihrem Weg durch die Slums gerade in Andacht versunken
gebetet – hatte ihn
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