Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
regelrecht verzückt. Noch nie in seinem Leben hatte
er einen Menschen derart wahrhaftig beten sehen. Doch dann war dieser
Pater gekommen und hatte sich neben sie gekniet und die ganze heilige
Szenerie zerstört. Schließlich, nach dem Gebet, hatten Silvia und der
Pater leise miteinander gesprochen, und deRossi hatte, davon war er
überzeugt!, sogar ein zaghaftes Lachen in Silvias Gesicht gesehen.
Dann war der Pater nach einem herzlichen Abschied verschwunden, und
Silvia und deRossi blieben allein in der Kirche zurück. Das war der
Moment, auf den er, unbemerkt in seinem Versteck, gewartet hatte. Nur
die von Kerzen beschienenen Statuen der Heiligen sollten Zeugen seines
notwendigen Eingreifens sein.
DeRossi näherte sich leise dem Mittelgang, von wo aus man sowohl den
Eingang zur Sakristei als auch den Haupteingang sehen konnte. Nicht
einmal der Hauch eines Geräuschs hallte in der leeren Kirche wider.
Während der Reise hatte er nicht nur Silvias Biografie studiert, sondern auch den geheimen Untergrund der Kirche, und den einzigen Zugang
dorthin.
Silvia war erneut in tiefem Gebet versunken. Er trat vor den Altar und
bekreuzigte sich, dann kniete auch er sich neben die Nonne, als wollte er Zwiesprache mit Gott halten. Das Tuch, leicht angereichert mit
Chloroform als Inhalationsbetäubungsmittel, lag schon in seiner Hand.
Es dauerte nicht einmal eine Minute. Die kleine, zierliche Silvia hatte
nicht die geringste Chance.
Eine halbe Stunde später erwachte die Ordensfrau im geheimen
Untergrund der Kirche wieder. Nicht ein Funken Angst noch Erstaunen
lag in ihren Augen. Sie schrie auch nicht, vielleicht weil sie wusste, dass sie hier unten ohnehin niemand hören würde.
»Ganz gleich, was du in deiner Unwissenheit auch tust«, sagte sie völlig ruhig zu ihm, »du wirst das Werk nicht vernichten. Der Triumph ist nicht die Tür, durch die du gehen wirst.«
Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte deRossi so etwas wie echtes
Unbehagen. Wie ein störendes Kitzeln strömte das Gefühl durch seinen
Körper. »Ich bin nur das Werkzeug«, erklärte er rasch.
Silvia schüttelte den Kopf. »Nein, du bist weniger als das.« In ihren
Augen blitzte es mutig und entschlossen. »Dein Leben ist ein blindes,
willkürliches Treiben, ohne Sinn und Ziel. Du liebst die Dunkelheit mehr als das Licht. Du hast nie die Flamme des Glaubens in dir verspürt, nie
auch nur einen einzigen anderen Menschen wie dich selbst geliebt, und
dennoch trägst du diesen Ring.«
DeRossi zuckte zusammen, doch dann richtete er sich sofort wieder auf.
Er hatte seine Kleidung durch indische Gewänder ersetzt. Tatsächlich
hatte er den Ring dieses Mal jedoch völlig vergessen, vielleicht, weil
dieser längst ein Teil von ihm geworden war. Von Jugend an war er ein
Mitglied des Lux. »Was immer meinen Meister gegen Sie aufgebracht
hat, muss schrecklicher sein als alles, was ich bisher erlebt habe«,
erwiderte er und begegnete ihrem intensiven Blick. »Ihr Wirken ist nicht mehr länger von Bedeutung.«
DeRossis gespielte Empörung beeindruckte Silvia nicht im Mindesten.
Sie saß einfach nur da und wartete, ohne ein weiteres Wort, und so
schritt er zur Tat, bevor ihn der Mut verlassen konnte. Wie ein Lamm,
das man zur Schlachtbank führt, fügte Silvia sich in ihr Schicksal, und so bereitete ihr Sterben deRossi noch mehr Beklommenheit.
Dann hatte er es gefühlt, nein, gesehen, ganz deutlich, just in jener
Sekunde, als das Leben aus ihren Augen gewichen war. Irgendetwas von
Silvias Lebenshauch war wie eine Nebelschliere auf ihn zugeströmt und
hatte ihn an der Stirn berührt.
Er hatte es genau gespürt. Wie eine geschwisterliche Liebkosung. Wie
einen zarten Kuss.
Silvia hatte ihm verziehen!
DeRossi krallte bei der Erinnerung die Finger in die Armlehnen des
Sitzes und blickte durch das schmutzige Fenster auf das von Leid und
Glück durchdrängte Kalkutta. Vor seinem inneren Auge sah er jedoch
eine ganz andere Szenerie: Kerzen. Ein Meer von Kerzen. Und Silvia
mittendrin. Mit der Hand tastete er unbewusst nach dem Päckchen
Zigaretten, das er bei sich trug. Dann fiel ihm ein, dass im Flugzeug das Rauchen verboten war. Während des gesamten Fluges von Kalkutta nach
Frankfurt versuchte der Monsignore nur eines: dieses Bild mit den
Kerzen und Schwester Silvia aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
LUKAS
45.
Ölberg bei Jerusalem, 33. n. Chr.
Catherine war im Freien. Der Himmel über ihr war voller
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