Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
kodierte Protokoll eines Einbruchs in ein Rechnersystem, anonymisiert. Das zweite – er hatte den Atem
angehalten – genau jene Schlagzeile über den Hausbrand nahe dem
Forum Romanum, die er selbst erst vor kurzem gelesen hatte.
Ciban hatte sich also schon einen Reim auf den nächtlichen Einbruch in
das Rechnersystem des Lux Domini und Abels Ermordung gemacht.
Höchstwahrscheinlich hatte er Bens nächtlichen Einbruch in Benellis
Villa im Geiste auch gleich addiert.
Ben hatte von der Akte aufgeblickt, allen Mut zusammen genommen und
gefragt: »Was ist ›Lukas‹, Eminenz?« Ciban hatte nicht sofort
geantwortet. Stattdessen hatte er die Akte zurückgefordert und sie in
einer der schweren Schubladen seines großen Schreibtischs
verschwinden lassen. Doch Ben hatte nicht lockergelassen. »Was haben
Schwester Isabella, Pater Darius, Pater Sylvester und Kardinal Benelli
damit zu tun?«
»Halten Sie diese Frage für klug?«, hatte der Präfekt schlicht gefragt.
Einen Moment lang hatte absolute Stille geherrscht. Dann hatte das
Telefon geklingelt und Ben von einer allzu forschen Erwiderung
zurückgehalten. Der Erzbischof von Kalkutta höchstpersönlich war am
Apparat gewesen und hatte von dem bizarren Todesfall in der kleinen
Kirche in Motijhil berichtet.
Schwester Bernadette hatte Recht. Die Chance war zwar gering, dass
Pater Raj Licht ins Dunkel der verschwundenen Toten bringen konnte,
aber vielleicht wusste er doch noch etwas zu berichten, das ihnen
weiterhalf. Überdies hatte Ben den Tatort ohnehin als Nächstes
besichtigen wollen.
Sie machten sich also auf den Weg zu dem Viertel, in welchem die
kleine Kirche lag, wobei Ben darum bat, dass sie genau jenen Weg
nahmen, den Schwester Bernadette und Schwester Silvia am Tag der Tat
genommen hatten.
Nun gingen sie mitten durch die Slums, in denen Tausende Menschen
zur Miete in winzigen, fensterlosen Hütten lebten, ohne fließendes
Wasser, ohne sanitäre Anlagen oder Kochgelegenheiten. Nur zu
bestimmten Tageszeiten floss ungefiltertes Wasser aus den öffentlichen
Leitungen. Das Regen- und Abwasser aus den Zisternen, das die
Menschen ergänzend zum Waschen und Baden benötigten, nutzte aus
der Not heraus auch das Vieh.
Schwester Bernadette berichtete ihm vom Schicksal eines
Rikschafahrers, der die Miete für sein Gefährt nicht mehr hatte bezahlen können und so seine Arbeit verlor, wodurch er das Geld für die
medizinische Behandlung seiner erkrankten Frau nicht mehr aufbringen
konnte. Der Rikschafahrer sei schließlich völlig resigniert in seine
bescheidene Behausung zurückgekehrt und habe sich das Leben
genommen. Leider hatte Schwester Bernadette erst nach dem Selbstmord
vom Schicksal des Mannes erfahren.
Wie die Missionarin auf dem Weg durch die Slums weiter berichtete,
lebten viele Menschen hier hauptsächlich von dem, was sie auf den
Müllhalden fanden und an die Fabriken weiterverkaufen konnten.
Lederfetzen, Gummi, Schrott, Plastik und so fort. Weniger als zehn
Prozent der Slumbewohner konnten lesen und schreiben. Viele der
Männer flüchteten sich in den Alkohol, und so trugen vor allem die
Frauen die volle Last der Verantwortung für ihre Kinder und ihre
Männer. Die schlechten Lebensverhältnisse und die durch die
Unterernährung bedingten Mangelerscheinungen führten wiederum zu
etlichen Erkrankungen wie Cholera, Malaria oder Tuberkulose. Ein
wahrer Teufelskreis.
Ben hatte auf der Taxifahrt nach Shanti Nagar gesehen, wie viele
Menschen hier auf dem Asphalt lebten. Der Fahrer hatte berichtet, dass
Stromausfälle von mehreren Stunden in Kalkutta keine Seltenheit waren.
Die Stadt mit ihren über zwölf Millionen Einwohnern – und täglich
kämen Tausende dazu – werde der Überbevölkerung und der Folgen
einfach nicht mehr Herr. Auch zögen sich immer mehr
Industrieunternehmen aus Kalkutta zurück und, wie Ben sicher
festgestellt habe, flögen auch immer weniger Fluggesellschaften die
Stadt an, was nichts anderes bedeutete, als dass diese ihre internationalen Lebensadern verlor. Dennoch sei Kalkutta keine sterbende Stadt, wie
immer wieder behauptet werde. Das Leben gehe weiter. Überall.
»Wir sind gleich da«, sagte Schwester Bernadette und deutete geradeaus.
»Sehen Sie, dort!«
Ben konnte die kleine, schlichte Kirche vor ihnen erkennen. Sie
überquerten einen übervollen Markt mit einem reichhaltigen Angebot,
der sich auf dem Vorplatz des Gotteshauses befand. Noch nie hatte Ben
so viele
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