Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
und obwohl er hundemüde war,
wollte er sofort den Leichnam Schwester Silvias sehen. Noch immer
gingen ihm die aberwitzigen Tatortfotos im Kopf herum, die Kardinal
Ciban codiert über das Internet in seinem Büro erhalten hatte. Die Tote
hatte darauf wie eine prophetische Heiligenstatue gewirkt, umgeben von
einem Meer von Kerzen. Eine der Fotografien hatte so friedlich, so
spirituell, so verheißungsvoll gewirkt, dass sie fast schon wieder brutal ausgesehen hatte.
Schwester Bernadette war eine kleine, rundliche Person mit Nickelbrille
und einer warmherzigen Ausstrahlung, die Schwester Silvia oftmals auf
ihren Touren durch die Slums begleitet hatte, wie sie Ben nun auf dem
Weg zur Leichenhalle berichtete. Das war auch der Grund, weswegen
die Oberin sie dazu bestimmt hatte, den Monsignore bei der
Untersuchung des Todesfalls zu unterstützen. Von allen
Ordensangehörigen kannte sie sich am besten in den Slums rund um
Shanti Nagar und die kleine Kirche aus, wo die Leiche gefunden worden
war.
Schwester Bernadette öffnete die Tür zur Leichenhalle, und sie
passierten den kleinen Vorraum, der zu einem dunklen Gang führte. Der
klimatisierte Raum erschien Ben im Kontrast zur Hitze im Freien so
erfrischend, dass er schon beinahe wieder fror.
»Warum haben Sie Schwester Silvia eigentlich nicht in die Kirche
begleitet?«, hakte Ben nach.
»Ich wurde zu einem anderen Patienten gerufen«, erklärte die rundliche
Nonne in dem blau-weißen Sari ruhig. »Manchmal teilen wir die Arbeit
in den Slums unter uns auf, um effektiver sein zu können.« Sie erzählte
von dem Patienten, zu dem sie gegangen war. Ein unheilbar an Krebs
erkrankter Mann, der noch in derselben Nacht gestorben war. Der
Ärmste hatte seit über einem Jahr furchtbar gelitten, doch nie hatte
Bernadette ihn jammern oder klagen gehört. Am Ende sei er nur noch
Haut und Knochen gewesen, da er schon lange keine feste Nahrung mehr
hatte zu sich nehmen können.
»Verstehe«, sagte Ben betroffen. Allmählich bekam er eine Ahnung von
dem unaussprechlichen Elend, mit dem die Missionarinnen hier
tagtäglich konfrontiert waren.
Sie schritten durch einen langen, halbdunklen Gang, von dem auf der
rechten Seite in regelmäßigem Abstand Nischen abgingen, die entweder
leer waren oder in denen ein Leichnam aufgebahrt lag. Schließlich blieb
Schwester Bernadette vor einer davon stehen. Die Missionarin blickte in
die Nische hinein und erstarrte.
»Was ist los, Schwester?«, fragte Ben, über ihre Reaktion erstaunt.
»Sie ist weg!«
»Wie bitte?« Er trat näher heran. Tatsächlich, die Bahre war leer.
»Vielleicht ist sie verlegt worden?«, überlegte Ben laut, obwohl er das
selbst nicht recht glauben konnte.
Warum sollte jemand Schwester Silvias Leichnam von einer Nische zu
einer anderen bringen? Die Ecke schien, genau wie die anderen,
ausreichend klimatisiert. Auch konnte er sich nicht vorstellen, dass das Erzbistum Kalkutta eine entsprechende Anweisung gegeben hatte.
Immerhin hatte der Erzbischof den Vatikan über den Todesfall
informiert, und hätte er die Leiche verlegen lassen, hätte er ganz gewiss die Oberin der Missionarinnen informiert.
»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich«, erklärte Schwester
Bernadette. Wie es aussah, waren ihr die gleichen Gedanken durch den
Kopf gegangen.
Sie suchten die restlichen Bahren ab, auch jene, die sie bereits passiert hatten, doch sie konnten die Tote nicht finden. Schließlich sprachen Ben und Schwester Bernadette bei der Oberin vor, die unverzüglich mit dem
Sekretariat des Erzbischofs telefonierte. Von einer Verlegung des
Leichnams wusste niemand etwas. Auch keine der anderen
Missionarinnen oder der sonstigen Bewohner der Kolonie konnte etwas
über den Verbleib der Toten sagen. Schwester Silvia blieb wie vom
Erdboden verschluckt.
»Die Hoffnung ist zwar gering, aber vielleicht kann uns Pater Raj etwas
dazu sagen«, meinte Schwester Bernadette schließlich.
Ben hatte gehört, dass der Pater die Leiche in der kleinen Kirche
entdeckt und sich, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte,
hilfesuchend an das Erzbistum Kalkutta gewandt hatte. Der Anruf des
Erzbischofs war just zu dem Zeitpunkt in Kardinal Cibans Büro
eingegangen, als Ben mit ihm über Abels Ermordung gesprochen hatte.
Der Präfekt hatte ihm daraufhin eine Akte gereicht, die bereits auf dem
Tisch gelegen hatte, und ihn gebeten, diese zu öffnen. Das Erste, was
Ben ins Auge gefallen war, war das
Weitere Kostenlose Bücher