Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
und nach wenigen Minuten den Brückenbogen am anderen Ufer erreichten. Wir klammerten uns an zwei Steinen fest, um nicht vom Sog des Flusses davongerissen zu werden, und stemmten die Füße in den Grund. Ja, über uns auf der großen, gemähten Wiese standen Autos – Autos mit Wohnwagen an der Anhängerkupplung und moderne Wohnmobile, die sich in einem großen Kreis positioniert hatten –, aber ein Dorf war nicht in Sicht. Ein Hund trabte zu uns an die Brücke, schnüffelte kurz an unseren feuchten Nasen und rannte dann mit wedelndem Schwanz wieder davon. Von irgendwoher erklang rhythmische, fremdartige Musik und wir hörten, wie zwei Leute sich stritten und eine dritte Stimme laut lachte. Es herrschte Aufbruchsstimmung.
»Ich glaub, ich weiß, was das ist …«, raunte Serdan. »Ein Zigeunerlager.«
»Sinti und Roma«, verbesserte ich ihn.
»Hä?«
»Zigeuner ist ein Schimpfwort. So wie Kümmeltürke.«
»Quatsch! Es gibt doch auch Zigeunerschnitzel und Zigeunermusik …«
»Ja, aber Papa hat mir beigebracht, dass man das nicht sagt. Sondern Sinti und Roma. Meine Urgroßmama war eine Roma. Die haben die schönsten Gräber, richtig pompös mit großen Engeln und tausend Verzierungen und kleinen Tempeln. Papa sagt, dass dieses Volk noch weiß, wie man dem Tod huldigt.«
»Hm«, machte Serdan und setzte sein Luftblasengesicht auf. »Und was sind das jetzt hier, Sinti oder Roma?«
»Weiß ich doch nicht«, entgegnete ich patzig. »Jedenfalls hat irgendjemand von denen ganz bestimmt ein Handy.«
»Meinst du?«, fragte Serdan zweifelnd. »Die leben in Wohnwagen …«
»Na und? Dann braucht man doch erst recht ein Handy. Schau mal, der Wagen da hinten, der große … An ihn könnten wir uns heranschleichen. Dort ist niemand.«
Ich zeigte auf einen mächtigen silberfarbenen Wohnwagen, der etwas außerhalb des Lagerplatzes stand. Von Fenster zu Fenster war eine Wäscheleine gespannt, an der farbenfrohe Klamotten und Handtücher zum Trocknen im warmen Wind wehten. »Vielleicht können wir uns sogar neu einkleiden, wenn wir uns nicht erwischen lassen.«
Serdan scannte mit seinen dunklen Augen die Umgebung. Schließlich seufzte er leise und packte den Stein etwas fester, um sich daran hochziehen zu können.
»Okay, Katz. Bei drei laufen wir los. Wir halten nicht an, sondern rennen bis zu dem Wagen durch und verstecken uns hinter den Büschen, um zu schauen, ob die Luft rein ist. Keine Extratouren, klar?«
»Klar.«
Serdan sah mich prüfend an. Ich hielt seinem Blick stand. Ich musste mich auf das konzentrieren, was wichtig war. Nicht an Leander denken, Luzie, denk nicht an ihn. Denk nicht an die Insel und diese schrecklichen Bilder, mahnte ich mich. Trotzdem stahl sich eine Träne meine Wange hinunter. Aber wir waren gerade geschwommen und getaucht. Bestimmt dachte Serdan, es sei Wasser. Er löste seine Hand vom Stein und strich mir tröstend übers Gesicht.
»Quarkreste«, vermeldete er knapp. Ich nickte nur. »Gut. Dann los. Eins, zwei … drei!«
Faria, faria, ho!
»Und? Passt du durch?«
Ich betrachtete skeptisch die schmale Luke und sah dann an mir herunter. Mein durchweichtes Tanktop klebte an meiner Haut und ich kam mir idiotisch dabei vor, in durchnässter Unterhose auf Serdans Schultern zu stehen und mich per Räuberleiter in die Höhe stemmen zu lassen. Aber die fehlenden Klamotten erleichterten unser Vorhaben. Es bestand nicht die Gefahr, dass ich mit den Reißverschlüssen und Taschen meiner Cargohose hängen blieb, während ich mich durch das geöffnete Fenster in den Wohnwagen schob. Denn genau das hatte ich vor.
Ich konnte das Innere des Wagens nicht komplett überblicken, aber wenn ich mich nicht täuschte, war er gerade leer. Sobald ich durch das Fenster geschlüpft war, konnte ich Serdan durch die Tür hineinlassen und nach einem Telefon suchen. Hier drinnen waren wir sicherer als auf dem Lagerplatz, wo Autos vor Wohnwagen gefahren und angekuppelt und letzte Aufräumtätigkeiten verrichtet wurden. Wir mussten uns beeilen, wenn wir nicht aus Versehen mitreisen wollten.
»Noch ein bisschen höher«, bat ich Serdan. Schwer atmend drückte er seine Knie durch. Ich schob meinen Oberkörper durch das Fenster, ließ mich nach vorne kippen und rollte mich mit einer sanften Ganzkörperdrehung in den Wagen. Geduckt verharrte ich in der Hocke an der Wand, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Was ich hier sah, war die Luxusvariante unseres roten Zigeunerwagens: eine topmoderne
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