Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
sollte wahrscheinlich der Auftakt zu dem Fest sein, das Sunis Familie heute Abend für die Bewohner von Saintes-Maries-de-la-Mer geben wollte. Aber da war noch ein Geräusch, das mich zunehmend verwirrte, denn ich hatte es noch nie zuvor in meinem Leben gehört – ein beständiges Rauschen, das näher kam und dann wieder verebbte. Näher kam und verebbte. Es zog mich magisch an, putschte mich auf und beruhigte mich gleichzeitig. Was war das nur?
Ich öffnete die Augen, doch der Wohnwagen präsentierte sich mir wie heute Morgen – bis auf das helle Flirren an der Decke, das mich an die Lichtspiele auf dem Rhein erinnerte, die sich an ganz besonders schönen und hellen Tagen manchmal an den Häuserfronten brachen.
Suni hatte sich umgezogen. Sie trug ein ausgeschnittenes rot-schwarzes Rüschenkleid, schmale Riemchenschuhe mit Absatz und ein ganzes Bündel an Ketten um den Hals und die Handgelenke. Außerdem hatte sie sich geschminkt. Ihre Lippen leuchteten dunkelrot wie Sauerkirschen. Na, da hatte Serdan ja was zu gucken heute Abend.
»Kann ich so nach draußen?«, fragte ich gähnend und deutete auf meinen zerknitterten Rock und das graue Tanktop, das auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Ich sah aus wie eine Sinti, der beim Ankleiden auf halber Strecke die Lust vergangen war. Außerdem sehnte ich mich nach einer Hose.
»Nein«, beschloss Suni. Sie streifte mir eine samtig schimmernde schwarze Boleroweste über, band sie unter meiner Brust zu und legte mir drei lange goldene Ketten um. Anschließend reichte sie mir ein paar weinrote Sandalen mit Absatz, die ähnlich aussahen wie ihre und wahrscheinlich so unbequem waren, dass ich keinen Schritt darin laufen konnte. Schnaufend quetschte ich meine Zehen hinein.
»Besser, aber noch nicht gut«, nörgelte Suni, griff zu ihrem Schminkkoffer und begann, mein Gesicht mit einem Make-up-Schwämmchen zu bearbeiten.
»Was machst du da?« fragte ich und versuchte, in den Spiegel zu linsen.
»Halt still! Ich versuche, dein Rot in ein Beige zu verwandeln. Sonst stichst du zu sehr aus uns heraus. Könnte jemandem auffallen, der eure Bilder im Fernsehen gesehen hat.«
»Wird denn immer noch über uns berichtet?«
»Nicht mehr so oft«, antwortete Suni gleichmütig und wischte mir mit kritischem Blick über die Stirn. »Deine Eltern sind jetzt nach Cap Ferret gefahren und wollen die Campingplätze absuchen.« Suni biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu kichern. »Damit werden sie wohl eine Weile beschäftigt sein. Ihr ruft sie aber noch einmal an, oder?«
»Klar«, sagte ich großspurig, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, jemals wieder normal mit Mama und Papa zu sprechen, sobald sie merkten, dass wir sie in die Irre geführt hatten. »Gleich morgen.« Morgen, nachdem ich Leander vor Guadeloupe bewahrt hatte. Mir wurde schwindelig, als ich über mein Vorhaben nachdachte. Nun war ich so nah dran und doch hatte ich keine Ahnung, wie ich meinen Plan verwirklichen sollte. Denn Serdan hatte recht – vermutlich konnten wir nicht einfach so zu Johnny Depp ins Wohnzimmer spazieren. Und selbst wenn: Eine Garantie, dass Leander dort war, gab es nicht.
»Guck nicht so finster, Luzie. Jetzt wird gefeiert. Unsere spanischen Freunde sind gekommen, um mit uns zu musizieren. Das bringt uns wieder ein bisschen Geld ein.« Suni betupfte ein letztes Mal fachmännisch meine Nase und lauschte. Von draußen vernahm ich weiche Gitarrenklänge, die sich zu den Trommeln gesellten, und sie lockten mich, obwohl das seltsame Rauschen um uns herum seine magnetische Wirkung nicht verloren hatte. Ich musste hier raus, jetzt sofort.
»Sollte ich mich irgendwie speziell verhalten?«, fragte ich Suni, die aufgestanden war und ihr Erscheinungsbild vor dem Spiegel überprüfte. Mit den flachen Händen strich sie über ihre seidigen Haare.
»Tu einfach so, als wärst du eine von uns. Immerhin siehst du jetzt aus wie eine von uns.«
»Und Serdan?«
Suni lachte fröhlich und warf die Haare mit Schwung über die Schultern.
»Der sieht sowieso aus wie einer von uns. Und er redet genauso wenig wie unsere Jungs, wenn ein Mädchen in der Nähe ist.«
»Ja, ich weiß. Ich kenne ihn schon lange«, erwiderte ich spitz und ärgerte mich im gleichen Moment darüber. Ich mochte Suni. Sie sollte bloß nicht denken, dass ich eine Zicke war. Es reichte mir, dass Serdan das dachte – und dass er dachte, ich sei in einen Star verliebt und wolle es nur nicht zugeben. Ob ich ihm diese Idee jemals wieder
Weitere Kostenlose Bücher