Lycana
die Aufgabe, euch sicher nach Dunluce Castle zu bringen«, fuhr der Bootsführer fort. »Also lasst uns zusehen, dass wir genügend Wind in den Segeln haben, um noch vor dem Morgengrauen anzukommen.«
Trotz des Willkommensgrußes konnte Alisa kein Lächeln in seiner grimmigen Miene entdecken. Seine Augen glommen in tiefem Rot. Er wandte sich ab und gab drei weiteren Vampiren knappe Befehle.
Alisas jüngerer Bruder Tammo, der wie die anderen ebenfalls aus seiner Reisekiste befreit worden war, trat an ihre Seite und sah dem Vampir nach. »Ist er nicht unglaublich?«, raunte er. In seiner Stimme schwang Bewunderung und ein wenig Furcht.
Alisa folgte seinem Blick. Hindrik trat nun zu ihm. Sie wechselten ein paar Worte und standen dann in einträchtigem Schweigen zusammen am Bug, um den die nächtlich schwarze See in weiße Gischt zerstob. Nein, feindselig gegenüber den anderen Familien schien Murrough nicht zu sein. Oder akzeptierte er Hindrik nur deshalb, weil der in seinem früheren Menschenleben ebenfalls zur See gefahren war?
Alisa schlenderte zu Franz Leopold, der sich ein wenig abseits von seiner Familie über die Reling beugte. Auf dem einfachen Fischerboot war der elegante Aufzug der Wiener geradezu lächerlich. Schweigend stellte sie sich neben ihn. Die Nacht heute war stürmisch und nur ab und zu schimmerte das Mondlicht für einen Moment zwischen den Wolken hindurch. Die Küste mit ihren felsigen Klippen, die mit sandigen Buchten wechselten, ließ sich nur erahnen.
»Wenn ich euch so betrachte, dann bin ich mir sicher, die Dracas werden eine aufregende Zeit in Irland verbringen!« Sie unterdrückte ein Lachen.
»Oh ja, das werden wir«, erwiderte Franz Leopold ernst. »Ich kann es kaum erwarten.«
Verwundert betrachtete Alisa ihn von der Seite, doch sie konnte nicht einen Hauch von Ironie entdecken.
»Cowan, wach auf!« Sein Vater schüttelte ihn an der Schulter. »Ich brauche heute Nacht noch einmal deine Hilfe.«
Der Junge schlug die Augen auf und gähnte. »Was gibt es?« Ein rascher Blick auf den Spalt zwischen den schweren Vorhängen, die die Zugluft abhalten sollten, zeigte ihm, dass es noch finstere Nacht war. Mit einem Mal war der Junge hellwach und schlug die Decke zurück. »Sind die Männer zurück? Was soll ich tun?«, fragte er eifrig, während er nach seinen groben Holzschuhen angelte.
Myles schien einen Augenblick zu überlegen, ehe er seinem Sohn antwortete. Dann sagte er mit Bedacht: »Ja, es kommen einige Freunde, die durch den Süden gereist sind, um etwas zu besprechen.«
Cowan zog einen dicken Pullover aus Schafswolle über den zerschlissenen Kittel, in dem er geschlafen hatte. Neben dem Muster der Familie hatte die Tante seine Initialen eingestrickt, wie es bei vielen Fischerfamilien üblich war. Zusammen erleichterten sie nach einem Unglück, die Toten zu identifizieren, die oft erst Tage später ans Ufer gespült wurden, wobei Cowan nicht fürchtete, dass sein Pullover ihm einst diesen Dienst erweisen musste. Myles fuhr mit seinem Boot nur auf den Lough Corrib hinaus, der sicher auch seine Tücken hatte, aber nicht mit der launischen See zu vergleichen war.
Cowan angelte nach seinen Hosen. Die Säume waren ausgefranst und schmutzig, doch das kümmerte weder ihn noch seinen Vater. »Kommen sie hierher ins Haus?«
Myles schüttelte den Kopf. »Nein, wir werden uns in einer verlassenen Hütte bei der Mine oben treffen.«
Cowan nickte mit ernster Miene. »Ja, hier ist es zu auffällig. Nicht alle Nachbarn denken wie wir. Zu oft war Verrat der Untergang, bevor es überhaupt begonnen hat.« Myles sah seinen Sohn voll Erstaunen an.
»Was ist? Denkst du, ich bin ein naiver Junge, der nicht weiß, was vor sich geht? Ich bin vierzehn, und ich bin ein Mann, der mit euch kämpfen kann!«
»Ein Mann? Du? Vielleicht in deinen Träumen!«, mischte sich eine helle Stimme ein. Vater und Sohn fuhren herum und starrten das Mädchen an, das barfuß und in einem langen Nachthemd in die Kammer trat. Die beiden warfen einander betretene Blicke zu.
»Nellie, wir wollten dich nicht aufwecken. Geh wieder in dein Bett und schlafe.«
Das Mädchen blickte vom Vater zu ihrem Zwillingsbruder, der ihr bis auf das kürzere Haar sehr ähnlich sah. Beide hatten rötliches, lockiges Haar, blaue Augen und ein Gesicht voller Sommersprossen. Ihre Mutter hatte die Geburt der Zwillinge das Leben gekostet, und so hatte Myles es mithilfe seiner Schwester, die nur ein paar Häuser weiter lebte,
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