Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
Arbeitszimmer.
11
In der Kapelle am oberen Ende des Gartens war das Bett für Suldrun hergerichtet, und hierhin brachte ein großes, stures Küchenmädchen namens Bagnold täglich zur Mittagszeit Speise und Trank. Bagnold war halb taub und hätte ebensogut auch stumm sein können, so wenig sprach sie. Sie war beauftragt, Suldruns Anwesenheit zu kontrollieren, und wenn Suldrun sich nicht in der Kapelle aufhielt – was fast täglich der Fall war, da Suldrun nicht auf die Zeit achtete –, stapfte Bagnold wütend hinunter in den Garten. Nach einer Weile war Bagnold dieser Anstrengung überdrüssig, und fortan stellte sie den vollen Korb auf die Stufen der Kapelle, nahm den leeren Korb vom Vortag und entfernte sich wieder: ein stillschweigendes Abkommen, das sowohl Suldrun als auch ihr selbst zupaß kam.
Wenn Bagnold ging, verriegelte sie die Tür mit Hilfe eines schweren Querbalkens aus Eichenholz, den sie in eigens zu diesem Zwecke angebrachte Eisenhalterungen legte. Es wäre für Suldrun ein leichtes gewesen, die Klippen zu beiden Seiten des Gartens zu erklimmen, und eines Tages, so sagte sie sich, würde sie dies auch tun und den Garten für immer verlassen. So vergingen die Jahreszeiten, Frühling und Sommer, und der Garten war so schön wie nie zuvor, wenngleich immer Stille und Melancholie über ihm lasteten. Suldrun kannte den Garten zu allen Stunden: im Morgengrauen, wenn der Boden schwer vom Tau war und die Schreie der Vögel scharf und klar schollen, wie Laute am Anbeginn der Zeit. Spätabends, wenn der Vollmond hoch über den Wolken dahinwanderte, saß sie unter dem Lindenbaum und blickte auf die See, während die Gischt rauschend über den Kies leckte.
Eines Abends erschien Bruder Umphred, das runde Gesicht leuchtend von unschuldigem Wohlwollen. Er trug einen Korb bei sich, den er auf die Stufen der Kapelle stellte. Er schaute Suldrun ausgiebig von oben bis unten an. »Wunderbar! Du bist so schön wie eh und je! Dein Haar schimmert, deine Haut glänzt. Wie machst du es, dich so sauberzuhalten?«
»Wißt Ihr das nicht?« fragte Suldrun. »Ich bade mich, in jenem Becken dort.«
Bruder Umphred hob die Hände in gespieltem Entsetzen. »Das ist das Taufbecken, gefüllt mit geweihtem Wasser! Du hast ein Sakrileg begangen!«
Suldrun zuckte nur die Achseln und wandte sich ab.
Mit fröhlichen Gesten packte Bruder Umphred seinen Korb aus. »Laß uns Freude in dein Leben bringen. Hier ist lohfarbener Wein. Wir werden trinken!«
»Nein. Bitte geht.«
»Bist du nicht gelangweilt und mißmutig?«
»Überhaupt nicht. Nehmt Euren Wein, und geht.« Bruder Umphred ging schweigend von dannen.
Als der Herbst nahte, färbte sich das Laub, und die Abenddämmerung kam früh. Die Abende brachten traurige und prächtige Sonnenuntergänge, dann kam Regen und schließlich die Kälte des Winters, und die Kapelle wurde trostlos und kalt. Suldrun häufte Steine zu einer Feuerstelle auf und errichtete einen Kamin vor einem der Fenster. Das andere verstopfte sie mit Zweigen und Gras. Die Brandung spülte genügend Treibholz auf den Kies. Suldrun sammelte es, trug es zum Trocknen zur Kapelle und verbrannte es auf der Feuerstelle.
Der Regen wurde weniger; das Sonnenlicht schien hell durch die kalte, klare Luft, der Frühling hielt Einzug. Märzbecher blühten auf den Blumenbeeten, und die Bäume legten ein neues Laubkleid an. Am Himmel erschienen die Sterne des Frühlings: Capella, Arkturus, Denebola. Eines sonnigen Morgens schwebten Kumuluswolken hoch über dem Meer, und Suldruns Herz begann schneller zu schlagen. Sie spürte eine seltsame Ruhelosigkeit, wie sie sie nie zuvor empfunden hatte. Die Tage wurden länger, und Suldruns Sinne wurden schärfer, und jeder Tag begann seinen eigenen Charakter zu haben, gleich als wäre er einer aus einer begrenzten Zahl. Eine eigenartige Spannung begann von Suldrun Besitz zu ergreifen, eine Vorahnung, und oft blieb Suldrun die ganze Nacht wach, auf daß ihr nichts entgehe, was in ihrem Garten geschah.
Bruder Umphred stattete ihr abermals einen Besuch ab. Er fand sie auf den steinernen Stufen der Kapelle in der Sonne sitzend. Bruder Umphred betrachtete sie mit Neugier. Die Sonne hatte ihre Arme, Beine und ihr Gesicht gebräunt und weißblonde Strähnchen in ihr Haar gebleicht. Sie war ein Abbild heiterer Gesundheit. Tatsächlich, so schien es Bruder Umphred, wirkte sie beinahe glücklich.
Das weckte seinen fleischlichen Argwohn. Ob sie einen Liebhaber hatte, fragte sich Bruder
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