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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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dachte. Die Männer im Publikum waren oft ruhig, standen herum, klatschten nicht. Die ersten vier Songs spielten die Jungs und er meist allein. Und dann zogen sie den Joker aus dem Ärmel: Sunny. Sie betrat mit ihren hohen Stiefeln die Bühne und begann, wie eine Besessene auf der Geige zu spielen. Ja, es war immer wieder schön anzusehen, wie die eben noch vollkommen reserviert und teilnahmslos dastehenden Männer sich auf einmal förmlich die Arme ausrissen, um klatschend von der schönen Frau auf der Bühne bcachtet zu werden.
    Wieder einmal wurde Danny bewusst, dass Sunny ihn geheiratet hatte. Hey, sie hatte Ja gesagt.
    Er lächelte.
    Sah die Sonne zum ersten Mal richtig an diesem Tag.
    Ließ sich vom sanften Schaukeln des Bootes einlullen.
    »Damals, 1917«, hörte er Henri erzählen, »wurde Hollywood zum ersten Mal auf die Gegend aufmerksam. Der allererste Tarzan-Film mit Elmo Lincoln wurde hier gedreht.«
    »Wahnsinn«, murmelte Danny.
    Sunny zwinkerte ihm über die Brillengläser hinweg zu.
    »Die Gegend, in die wir fahren, wird Atchafalaya Bayou genannt.«
    Ab und zu kam ihnen ein Kanu entgegen, aber diese Begegnungen waren eher die Ausnahme.
    Die flachgründigen Seen, die sie passierten, waren voller tiefbraunem Wasser. Sie sahen kleinere und größere Inseln, auf denen Kiefern, Zypressen und Magnolien wuchsen.
    Danny wurde eines Vogels gewahr, der bunt und seltsam aussah und davonflog, sobald er merkte, dass er beobachtet wurde.
    Auf manchen der Inseln standen mächtige Herrenhäuser weiß glänzend im Sonnenlicht. Ihre Säulen ließen sie wie Tempel aussehen. Überbleibsel der Plantagen, auf denen einst Zuckerrohr angepflanzt worden war.
    Im Wasser trieben Seerosen, Wasserhyazinthen. Schilf dickichte raschelten.
    Sunny wollte die Hand durchs kühle Nass gleiten lassen, doch Henri warnte sie: »Würde ich nicht tun. Die Alligatoren sind zwar scheu, aber man weiß nie.«
    Sie fuhren an einem alten Holzhaus vorbei, das zerfallen am Ufer stand. Das Dach hing fast bis zum Boden hinab.
    »Da hat Betsy Butler mit ihrem Mann gelebt. Sie haben hier vor hundert Jahren damit begonnen, Terpentin aus dem Harz der Bäume zu gewinnen. Daher auch die Kerben in den Zypressen, sehen Sie nur.« Er lenkte das Boot an einer aus dem Wasser ragenden Wurzel vorbei. »Naja, und während der Prohibition wurde hier jede Menge Schnaps gebrannt. Die Polizei kam nicht in die Gegend, und so konnte man tun und lassen, was man wollte. Betsy und ihr Mann verschwanden eines Nachts, sagt man, als sie sich auf den Seen nahe des Bayou Blanc herumtrieben.«
    Er bedachte Danny mit einem Blick, der alles sagte. »Noch so eine Story, die meiner Schwester gefallen würde.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen. »Die Touristen mögen diese Art von Southern Gothic.«
    »Postkartenmotive, was?!« Sunny hatte ihren Humor nicht verloren.
    »Ja, Postkarten und T-Shirts.«
    Danny schwieg.
    Es wurde dunkler, je tiefer sie in den Wald aus Zypressen hineinfuhren. Die Sonne zog sich zurück, aber die Luft war warm und stickig wie vorhin. Es roch nach Torf und wilden Tieren.
    Zyperngras, Wasserschlauch und Schneeballstrauch gediehen prächtig.
    Sie sahen die ersten Alligatoren, die faul in der Sonne lagen, und eine Schnappschildkröte, die abtauchte, sobald sie das Boot Wellen schlagen spürte.
    Es war eine Wildnis.
    Ja, ein richtiger Dschungel.
    Insekten, Blutegel, hohe Tupelobäume, einige Palmen, Schlick und Sumpfkiefern.
    Vögel kreischten in der Stille, und fürs menschliche Auge unsichtbare Wesen plätscherten durchs trübe Wasser, das von Blättern und Blüten bedeckt war, so dass man nicht erkennen konnte, was genau sich da unten in den Tiefen herumtrieb.
    Manchmal sah man etwas.
    Einen schuppigen Rücken, eine schlängelnde Bewegung in den Schatten, einen abtauchenden Wels.
    Ein alter Bohrturm ragte an einer Lichtung aus dem Wasser, umgeben von den Gerippen toter Bäume.
    »Früher wurde hier überall nach Öl gesucht.« Lafitte deutete zum Bohrturm. »Das ist alles, was davon übrig geblieben ist. Sie haben den Müll einfach im Sumpf verrotten lassen.« Das Boot wurde jetzt langsamer, weil die Flussarme enger wurden. Äste hingen über dem Wasser, und manchmal mussten sie sich im Boot alle ducken. »Ja, das Öl war das Gold dieser Gegend. Überall haben sie danach gesucht. Danach und nach Salz.« Er schaute zu, rück. »Drüben, bei New Iberia, gibt es einen See, den Lake Peignur. Im November 1980 stockte der Bohrmeißel einer Texaco-Plattform, die

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