M A S H 02 - in der Heimat
nicht die Absicht, den Sumpf medizinischer Literatur durch Beiträge zu vergrößern. Er nannte die Fachzeitungen Journale der überflüssigen Forschung. Ab und zu jedoch schrieb er drei Abende hintereinander über einen Fall, der ihn interessierte, an dem er etwas lernte, oder der ihm Kummer machte. Er schrieb zu seinem Vergnügen, zur Seelenstärkung oder weil er vor der unerbittlichen Wahrheit flüchten wollte, daß die Menschen an Krebs starben. Vielleicht auch tat er es, um einen Sinn hinter allem zu entdecken.
Wie alle unbedeutenden und die meisten bedeutenden medizinischen Zeitschriften ist auch das Maine Medical Journal darauf spezialisiert, Extrakte aus anderen medizinischen Veröffentlichungen zu drucken. So entstehen dann ungenaue, sinnlose Artikel über Themen, die anderswo bereits erschöpfend behandelt worden sind, oder wissenschaftlich suspekte Analysen seltener Krankheitsfälle. Hawkeye war daher nicht überrascht, als er einen Brief von Hank Manley bekam, dem Sekretär der Ärztegesellschaft des Staates Maine und Herausgeber des Maine Medical Journal. Manley fragte Hawk, ob er einen wissenschaftlichen Aufsatz über den Luftröhrenkrebs schreiben wolle.
Eine Woche später antwortete Hawk und legte seinen Zeilen eine Erzählung bei. Sein Brief lautete:
Lieber Hank,
es sollte mich wundern, wenn es im ganzen Staat Maine zwei Fälle von Luftröhrenkrebs gäbe. Daher halte ich auch nichts von einem wissenschaftlichen Aufsatz‹ über dieses Thema. Rein zufällig jedoch hatte ich erst vor kurzem einen solchen Fall. Was ich darüber geschrieben habe, ist keine medizinische Abhandlung. Es ist die Geschichte von Elch Lord. Die wenigen bekannten Fakten über den Luftröhrenkrebs können Sie nachschlagen und ich wünsche Ihnen dazu viel Glück. Ich erwarte nicht, daß Sie die Geschichte von Elch Lord im Maine Madical Journal drucken, und ich möchte es auch gar nicht. Aber ich dachte mir, Sie würden sie vielleicht gerne lesen. Hier ist sie:
DAS LIED DES ELCHS
Jeder, der in den letzten fünfunddreißig Jahren in der Muscongus Bucht auf Hummerfang war, hat das Lied des Elchs gehört. An ruhigen nebeligen Morgen unterbrechen eine Reihe vertrauter Laute die Stille der Bucht. Da ist der Schrei der Seemöwen, das Murmeln der Brandung, wenn die leisen Morgenwellen an die felsigen Inselstrände plätschern, das Wack–Wack der oft geflickten Motoren der Hummerboote. Und als ich noch ein kleiner Junge war, gab es auch das Lied des Elchs, das wie eine Stimme aus dem Jenseits über das Wasser und durch den Nebel schwang. Es war ein tiefer, dröhnender aber einschläfernder Ruf, ein glückliches, tröstliches Lied. Wenn man ganz genau hinhörte, verstand man sogar die Worte:
Brüder, kommt zum Flusse,
zum wunderschönen Flusse,
wo alle Heiligen sind.
So oft mein Vater, der Große Benjy Pierce, und ich das Lied hörten, hielten wir kurz inne, lächelten und nahmen erst dann unsere Arbeit wieder auf. Manchmal sagte der alte Mann auch: »Das Lied des Elchs klingt übers Meer.« Meist setzte er dann hinzu: »Der Elch sollte lieber mehr Hummer fangen und weniger Hymnen singen.«
Der Elch war Jonas Lord. Jonas hauste auf der Indianerinsel an der Südseite von Crabapple Cove in einer Hütte, die aus einem einzigen Raum bestand. Eigentlich ist es nur bei Flut eine richtige Insel. Bei Niederwasser verbindet ein Riff aus Schlamm und Fels sie mit dem Festland. Wenn ich als Kind Jonas besuchte, dann ging, schwamm oder ruderte ich im Skiff des Großen Benjys zu ihm; das hing von Ebbe und Flut, von der Jahreszeit und von meiner Stimmung ab. Jonas war ein breiter, großer Mann mit einem Stiernacken und ausladenden Schultern. Er hatte ein ausdrucksvolles, glückliches Gesicht, aus dem Humor, Güte, Verständnis und Liebe für alle Menschen sprachen. Manchmal huschte auch eine gewisse Leere und Ratlosigkeit über seine Züge, aber das dauerte niemals lange. Wer Jonas Lord ansah, dem drängte sich der Spitzname Elch ganz von selbst auf. Am meisten liebte der Elch die Kinder, und alle Kinder liebten ihn.
Der Elch fing Hummer und pflückte Muscheln. Er las auch die Bibel, aber nicht besonders. Er konnte überhaupt nicht sehr gut lesen. Dafür spielte er die Fidel, und an Samstagabenden sang er bei Tanzveranstaltungen. Er sang in seiner Hütte auf der Indianerinsel und in seinem Hummerboot und jeden Sonntag in der Kirche. Einen Teil seines spärlichen Einkommens gab er für Lebensmittel und Benzin für sein Boot aus. Den
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