Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
gemacht?«
Eine zweite Gestalt löste sich. Es war Jorge de Silva. Auch
sein Aussehen war grünlich-grau, als würde er an der
Auszehrung leiden.
Wie Pergament spannte sich die blutleere Haut über die Sehnen
und Knochen.
Seine Hand fuhr über Carmen de Silvas Gesicht. Die schrie
gellend auf.
Über die kalkweißen Lippen ihrer Eltern kam ein
gehässiges Kichern.
»Ihr seid nicht meine Eltern – ihr seht nur so
aus…«, krächzte sie. »Weg! Geht weg! Ihr seid
Traumbilder, Visionen… mehr nicht!«
Macabros war verzweifelt. Er versuchte vergebens sich von der
Stelle zu lösen, um Carmen de Silva zu Hilfe zu kommen.
Was das Mädchen in diesen Sekunden durchmachte, war mehr, als
ein Mensch ertragen konnte. Sie wurde gefoltert. Orlok, das Phantom,
setzte dieses Menschenkind einem unvorstellbaren Grauen aus.
Verzweiflung trieb Carmen de Silva auf die Füße und
ließ sie zurücktaumeln. Sie brachte es nicht fertig, ihren
Blick von dem Paar zu nehmen, das ihre Eltern und doch nicht ihre
Eltern waren. In Orloks finsterem Magiereich waren sie zu Untoten
geworden. Nur die äußere Hülle stimmte noch und hatte
eine gewisse Ähnlichkeit mit den Menschen, die sie mal gewesen
waren.
Carmen de Silva wich Schritt für Schritt vor ihren eigenen
Eltern zurück, wimmerte, fiel zu Boden und raffte sich wieder
auf.
Jorge und Maria de Silvas Worte klangen hohl und lieblos. Sie
kannten ihre Tochter nicht mehr. Sie waren nur noch Marionetten, die
wie an unsichtbaren Fäden geführt wurden.
Da konnte Macabros einen Schritt nach vorn machen, und einen
zweiten. Es war, als ob der rätselhafte Bann sich
unerklärlicherweise mit einem Mal löse.
Die junge Spanierin wurde durch die Gasse der gaffenden
Halbdämonen und Untoten getrieben und erreichte das Ende des
Platzes, wo das geheimnisvolle große Haus lag, das aus dem
schwarzen, kahlen Fels in einem Stück herausgehauen schien.
Zischend öffnete sich ein Spalt. Ein stumpfes, rotes
Glühen brach hervor, als würde ein Weg zum Zentrum der
Hölle frei.
Mit dem Rücken näherte sich Carmen de Silva der
Öffnung und bewegte sich wie in Trance, die Augen nicht von dem
Paar wendend, vor dem sie floh.
Macabros kam dicht dahinter, streckte die Arme aus und wollte die
untoten Eltern der jungen Lehrerin beiseitedrücken. Aber seine
Fingerspitzen glitten wie über eine glatte, unsichtbare Haut
hinweg. Er konnte die de Silvas nicht berühren und kam keinen
Millimeter näher.
Er sah, wie Carmen de Silva die Schwelle zu dem geheimnisvollen,
rot glühenden Tempel überschritt und verschwand.
Glatt und fugenlos schloß sich die kahle Felswand wieder,
als hätte es nie eine Öffnung gegeben.
*
»Nun, Erdenwurm?« hörte er die spöttische
Stimme, die sich in das Gelächter und Gekicher der
Halbdämonen und Untoten mischte. »Merkst du, wie
beschränkt deine Fähigkeiten sind, wenn ich sie
kontrolliere? Hier herrsche ich, hier bestimmte ich. Ich,
Orlok!«
Der Himmel begann zu glühen, und der riesige Koloß
erschien wie ein Spuk über der bizarren Tempelstätte. Es
sah aus, als wäre er damit verwachsen.
»Hattest du dir nicht vorgenommen, das Mädchen Carmen zu
retten, ihr zu helfen? Warum hast du es nicht getan? Ich kann dir die
Antwort darauf geben: Dein Geist vermag hier nichts auszurichten. Du
mußt es schon noch mal versuchen. Du mußt selbst hier
herkommen, so, wie du wirklich bist. Aber beeil’ dich,
Erdenwurm! Du hast nicht viel Zeit. Wenn der Austausch erst mal
vollzogen ist, ist es zu spät. Dann ist Carmen de Silva nicht
mehr Carmen de Silva, sondern eine Untote, die mit deiner Hilfe
nichts mehr anfangen kann.«
Macabros stand wie zu Stein erstarrt und merkte die
außergewöhnliche Schwäche, die plötzlich seinen
Willen beherrschte.
Er konnte nicht mehr länger hier bleiben.
Hellmarks Unterbewußtsein konnte den Zweitkörper nicht
mehr länger aufrechterhalten.
Wie eine Seifenblase löste Macabros sich auf.
Alle Eindrücke erloschen…
*
Im Unterbewußtsein registrierte er die tödliche
Gefahr.
Die Hitze, das Prasseln der Flammen – etwas stimmte doch hier
nicht!
Fauchend traf der Gluthauch ihn, und er hatte das Gefühl, in
eine Bratröhre geschoben zu werden.
Er schluckte, und sein Hals schmerzte. Die Luft um ihn herum war
trocken und heiß.
Der Mann auf dem Boden stöhnte leise und bewegte sich. Sein
Körper unter dem dicken Rauch- und Qualmschleier war seltsam
durchsichtig. In dem Maße, in dem Hellmarks Zweitkörper
mehr Energie brauchte,
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