Macabros 053: Totenkopfmond
offen.
Dieser Gedanke kam ihm zuerst, und er wurde sofort von dem
Scharlachroten tangiert.
»Dies zu wissen, nützt dich nichts, Ramdh. Du wirst
nicht in der Lage sein, an den glatten Wänden emporzuklimmen. Du
müßtest die klebrigen Füße einer Fliege haben,
wolltest du das bewerkstelligen.«
»Meine Gedanken – du kennst meine Gedanken?«
entfuhr es dem Fürsten.
»Ich kann mir vorstellen, was in dieser Sekunde in dir
vorgegangen sein mag. Wenn ich mir deine Gedanken hole – dann
geschieht das nicht auf eine für dich bequeme Weise.«
Ramdh stand inmitten der großen Gefängnishalle.
»Wo ist Aleana?«
»Auf dem Schwarzen Altar der Inoshtar. Du wirst ihn noch
früh genug kennenlernen. Ich möchte sie noch eine Zeitlang
allein dort lassen, damit sie zu spüren beginnt, was es
heißt, mir Feindschaft geschworen zu haben. Die Einsamkeit ist
für ihre zarte Seele das pure Grauen. Eingeschlossen von
gischtigen Feuerfluten zu allen Seiten, begreift sie die
Hoffnungslosigkeit um so besser. – Was ist mit Rani
Mahay?«
»Ich weiß nichts von ihm. Er hat sich abgesetzt. Ich
weiß nicht, was er im Schild führte.«
»Er ist noch in Ullnak?«
»Ja.«
»Dann werde ich ihn finden. – Bevor ich jedoch
unnötige Wege einschlage, werde ich mich vergewissern, ob du
auch die Wahrheit gesagt hast. – Du hast doch die Wahrheit
gesagt, nicht wahr?«
»Ja.« Ramdh blieb standhaft.
»Nun gut, wie du willst.« Die letzten Worte des
Scharlachroten waren noch nicht verhallt, da geschah es schon.
Tamuur schuf aus dem Nichts eine fahle, pulsierende Wand, die sich
genau zwischen ihnen beiden formte.
Fürst Ramdh wurde förmlich zurückgeschleudert, als
die Ausstrahlung dieser Wand seinen Körper traf.
Der Antolanier-Mann atmete flach und schnell, er fühlte die
harte Felswand in seinem Rücken. Er versuchte, sich davon zu
lösen und abzustemmen, aber er klebte daran wie angewachsen.
Die helle Energiewand, hinter der Tamuurs Körper doppelt so
groß und perspektivisch verzerrt erschien, rückte lautlos
näher an ihn heran.
Tamuur hob beide Arme in die Waagrechte.
Aus der Wand lösten sich zarte Nebelstreifen, die sich
schlangengleich auf Fürst Ramdh zubewegten.
Die Nebelschwaden waren fingerdick und tauchten nur in Höhe
seines Kopfes auf. Der Antolanier riß angsterfüllt beide
Augen weit auf.
Was hatte Tamuur nun mit ihm vor?
Die Nebelstreifen berührten seine Haut. Sie wurde an den
Berührungsstellen kalt wie Eis, und Ramdhs Körper
überzog sich mit einer Gänsehaut.
Er schrie gellend auf. Etwas bohrte sich in seine Stirn, sondierte
tief und erreichte sein Bewußtsein.
Seine Kopfhaut zog sich zusammen. Ramdh erlebte bei vollem
Bewußtsein einen Schmerz, der ihn an die Grenze seiner
körperlichen Belastbarkeit brachte.
Die hellen Nebelstreifen, die zwischen ihm und der Energiewand
bestanden, verfärbten sich, wurden grün und schwarz, rot
und orange, gelb und violett. Die Farben liefen in dicht
beieinanderliegenden Streifen in die helle Wand hinein und bildeten
rasch farbige Flächen, die sich belebten wie Fernsehbilder.
Tamuur zapfte seinen Bewußtseinsinhalt an!
Fürst Ramdh begriff das Ungeheuerliche und versuchte sich
darauf einzustellen. Er konzentrierte sich auf Straßen und
bestimmte Plätze in der Antolanierstadt, wo seine Burg
stand.
Er wollte die Bilder auf der Energiewand beeinflussen, um Tamuur
in die Irre zu führen.
Straßenzüge und Laternen gab es, Menschen zeigten sich,
die sich in die Arme fielen.
Glückliche Menschen, die froh waren, daß das Unheil nun
vorüber war, daß sie wieder im Vollbesitz ihrer geistigen
und körperlichen Kräfte waren, daß der Totenkopfmond
in Antolanien nicht mehr schien. Die Straßen, Plätze und
Häuser waren wieder so wie früher und hatten nicht mehr die
Form und Farbe bleicher Knochen. Auch die Pflanzen wuchsen wieder
normal, die Tiere, von denen es nur vereinzelt welche gab, tauchten
auf und waren mit Pelz und Federkleid versehen. Die Zeit der
Knochenmonster in Antolanien war vorüber.
»Nein, das ist sie nicht. Das ist nur eine Episode«,
sagte Tamuur rauh. »Die Zeit wird wiederkommen. Und die Bilder,
die du vorschickst, sind schwach und dünn und wirken nicht
überzeugend. Das Wahre, das in deinem Bewußtsein verborgen
liegt, Fürst Ramdh, wird an die Oberfläche kommen und mir
– und auch dir – genau zeigen, was du wirklich weißt,
was deine Augen gesehen haben, was du wahrgenommen hast.«
Und genauso geschah es.
Die Bilder veränderten sich.
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