Macabros 055: Mysterion, der Seelenfänger
Mirakel kümmerte sich nicht darum, sondern
erhöhte noch seine Geschwindigkeit.
Als er auf das geschlossene Schott traf, war der ganze Raum von
wildem Lärm erfüllt. Das schwere Metall, das ihn hermetisch
von dem Rest der Station, abriegelte, segelte quer durch die
Luft.
Knapp hinter dem Schott kam Mirakel zum Stehen. Zu seinen beiden
Seiten waren die Fortsätze eines Korridors, der, soweit das Auge
reichte, mit Metall beschlagen war. Weit jedoch reichte das Auge
nicht. Denn schon nach einer relativ kurzen Strecke nahm eine
Krümmung ihm die Sicht.
Mirakel wandte sich nach rechts.
Mit ausgestreckten Armen erhob er sich in die Luft und begann in
atemberaubendem Tempo den Gang entlangzufliegen.
Kein Hindernis stellte sich ihm in den Weg.
Die Eintönigkeit des Korridors verwunderte ihn. Es zweigten
keine weiteren Gänge ab. Nicht mal eine Tür war zu
sehen.
»Es war ein Fehler, Mirakel«, ertönte
plötzlich eine Stimme aus dem Nichts.
Der Dykte verringerte seine Geschwindigkeit und setzte auf dem
Grund des Ganges auf. Sein Blick war nach oben gerichtet, in die
Luft, aus der die Worte gekommen waren.
»Mysterion«, stellte Mirakel fest.
»Ja, Mysterion!«
»Wo steckst du?« fragte der Dykte. »Hat dir deine
Furcht empfohlen, dich zurückzuziehen?«
»Ein Mysterion kennt keine Furcht! Er kennt nur die
Vorsicht!«
»Sie scheint so weit zu gehen, daß er sich hinter
seiner Stimme versteckt«, erwiderte der Dykte. »Sich selbst
zu zeigen, das wagt er nicht mehr.«
Mysterion lachte auf.
»Er wagt es!« erklärte er. »Doch an einem Ort,
den er bestimmt!«
Mirakel ersparte sich einen Kommentar. Er wußte, daß
sein Gegner genug gesagt hatte. Von nun an würde er schweigen.
Mirakels Aufgabe würde es sein, den Ort zu finden, den Mysterion
zur Stätte ihres großen Kampfes erkoren hatte.
Er schwang sich wieder in die Luft und setzte seinen Flug
fort.
Nur noch oberflächlich registrierte er die Kahlheit seiner
Umgebung. So weit er auch vorankam, änderte sich nichts am
Aussehen des Korridors. Er kam sich vor wie in einem
ringförmigen Schlauch, der in seiner Begrenztheit doch unendlich
ist.
Plötzlich geschah es!
Von einem Moment auf den anderen erschien vor ihm eine Gestalt.
Regungslos verharrte sie in der Luft und zeigte keine Absicht, dem
sich nähernden Mirakel zu weichen.
Es war ein sonderbares Wesen. Seine Ausmaße nahmen die ganze
Breite und Höhe des Korridors ein, ohne ihn regelrecht zu
verschließen. Dies verhinderte die Form des Wesens, das
ständig pulsierte. Von seinem oberen Ende ragten drei lange
Hälse herab, die sich ihrerseits an den Spitzen wieder
spalteten. Jeden der zwei Zweige krönte ein länglicher
Kopf, auf dem spinnwebendürre Haare wie Seetang hin- und
herwogten.
Mirakel achtete nicht auf das Wesen. Er ignorierte das heisere
Krächzen, daß es ausstieß, und flog mitten in seinen
pulsierenden Körper hinein.
Er hätte zumindest vermutet, daß ihm die fleischige
Masse etwas von seiner Geschwindigkeit nähme. Vielleicht
hätte sie sich auch als undurchdringlich erwiesen und ihn
zurückgeschleudert.
Auf all das war Mirakel vorbereitet, aber die Wirklichkeit
überragte alles. Denn nichts von dem geschah. Der Dykte flog auf
den Alp zu – und durchdrang ihn!
Er stieß auf keinen Widerstand. Es war geradeso, als
wäre vor ihm nichts weiter als Luft.
Er durchschaute das Spiel seines Widersachers. Doch obgleich er
sich darüber im klaren war, daß er die Gestalt nicht zu
fürchten brauchte, kam der Angriff für ihn
überraschend.
Er hatte die Ausgeburt einer krankhaften Fantasie soeben passiert,
da war er bereits umlagert von mehr als einer Handvoll ähnlicher
Gestalten:
Keine glich der anderen. Gewisse Merkmale des Äußeren
stimmten in dieser oder jener Hinsicht überein. Nie aber bei
allen Gestalten. In ihrer Gesamtheit boten sie einen grausigen
Anblick, ein Bilderbuch-Pandämonium.
Mirakel flog mitten durch sie hindurch und achtete nicht auf das
Anschwellen der Geräusche, das von ihnen ausging. Ihre abstrusen
Köpfe pickten und hackten auf ihn nieder. Flügel wurden
geschlagen, und mit Saugnäpfen behaftete Tentakel versuchten ihn
zu ergreifen. Ein normaler Mensch hätte angesichts dieser
alptraumhaften Wesen bereits den Verstand verloren.
Nicht so der Dykte. Er war kein normaler Mensch.
Nur zu sehr ahnte Mirakel, daß all diese Wesen Schein waren.
Sie waren keine Realität, sondern Spiegelungen eines
Jenseits’ der faßbaren Welt. Und wie der Mensch im
Normalfall nicht
Weitere Kostenlose Bücher