Macabros 059: Die menschenfressenden Schatten
unterstützten…
*
Sie fand den Morgen herrlich, als sie auf dem Balkon des ersten
Stockes stand und den Blick vom Hügel über die
blühenden Gärten und über das Meer schweifen
ließ, das sich bis zum Horizont hin ausdehnte.
Olivia Santieno atmete tief die milde Luft ein.
Die Frau war allein im Haus.
Ihr Mann befand sich auf einer Geschäftsreise und würde
erst in drei Tagen zurückkommen. Wie üblich hatte Alfredo
jedoch diverse Telefonnummern hinterlassen, unter denen er in diesen
Tagen aller Wahrscheinlichkeit nach zu erreichen war. Außerdem
wollte er wie gewohnt zwischendurch mal anrufen, um sich zu
informieren.
Im Lauf eines Tages gab es von wichtigen Personen immer wieder
Anrufe, über die Alfredo unterrichtet sein wollte.
Olivia Santieno frühstückte gewohnheitsmäßig
sehr spät, meistens erst nach ihrem morgendlichen Spaziergang
durch den Park.
Gestern – einen Tag nach dem rätselhaften und sie
ängstigenden nächtlichen Ereignis – hatte sie diesen
Spaziergang zum ersten Mal nach langer Zeit unterlassen.
Der Gedanke, daß Alfredo einen Toten irgendwo im Park
verscharrt hatte, bedrückte sie.
Nach den Aufregungen der Nacht, nach der Party war sie jedoch
merklich ruhiger geworden und hatte begonnen sich zu fragen, ob es
überhaupt richtig gewesen war, so zu handeln, wie sie gehandelt
hatten.
Ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Polizei zu
verständigen? Wieder kam ihr dieser Gedanke. Aber dann verwarf
sie ihn wieder. Sie konnten sich keinen Skandal erlauben. Sie hatten
keine Schuld an dem Tod Mister Greenichs, also wußten sie auch
nichts davon.
Greenich war ohne Familie. Er lebte im Haus seiner ältlichen
Schwester, die ihn verwöhnte wie einen Sohn. Sie hatte hier
angerufen und sich nach ihrem Bruder erkundigt. Alfredo hatte sie
wissen lassen, daß Greenich ziemlich angeheitert als letzter
Gast – wie üblich – sein Haus verlassen hätte.
Der reiche Makler hatte sich verwundert gezeigt, daß Greenich
nicht zu Hause angekommen war, fand aber, daß dies kein Grund
zur Besorgnis sei. Schließlich war ebenso bekannt, daß
Greenich eine Schwäche für das schöne Geschlecht
hatte. Da konnte es schon mal vorkommen, daß er auch mal eine
Nacht wegblieb und nicht im Haus seiner Schwester schlief.
An diesem Morgen verließ Olivia Santieno ihr Haus und machte
einen Spaziergang durch den Park.
Sie erfreute sich an dem Zwitschern der Vögel, dem Duft der
Blüten und der Farbenpracht der Rosen ebenso wie am leisen,
beruhigenden Plätschern der Springbrunnen.
Olivia lächelte versonnen und fühlte sich
glücklich.
Sie kam auch an der alten schottischen Ruine vorbei.
Sie blieb davor stehen und ließ den Blick über das
Gemäuer und das Tor schweifen. Da war es ihr, als ob sie ein
leises Wispern vernahm.
Sie hielt den Atem an.
Ja! Da war es wieder! Leise und gequält, als ob jemand hinter
diesen Mauern leide.
Ihre Nackenhaare sträubten sich, und eine Gänsehaut lief
über ihren Körper.
Sie mußte an das denken, was sie gehört hatte, als
Greenich offenbar unter einem furchtbaren Erlebnis stehend, zu
fliehen versuchte. Diese Laute stimmten mit jenen überein!
Eisige Kälte erfüllte sie, und sie meinte, von innen her
zu erfrieren. Konnte es sein, daß Alfredo auf die Idee gekommen
war, den Toten hier in der Ruine zu verstecken?
Der Verdacht lag nahe. Ein besseres Versteck konnte man sich gar
nicht denken!
Als Alfredo in jener Nacht nach dem schrecklichen Fund in das Haus
zurückgekommen war, hatte er keine großen Worte mehr
gemacht, sondern ihr nur erklärt, daß »alles in
Ordnung sei«…
Vor Olivia Santienos Augen begann die Luft zu flirren. Sie
fürchtete schon, ohnmächtig zu werden, hielt sich aber mit
Willenskraft auf den Beinen.
Dieses klagende, permanente Wimmern aus dem Gemäuer! Es
machte sie wahnsinnig und versetzte sie in namenlose Furcht.
Konnte ein Toter seinen eigenen Tod beklagen?!
Sie warf sich herum und rannte den Weg zurück, den sie
gekommen war, weil sie es in der Nähe der Ruine, wo sie sonst so
gern verweilte, nicht mehr aushielt…
Sie lief quer durch den Park, und es kam ihr vor wie eine
Ewigkeit, ehe sie das Haus wieder durch die Bäume schimmern
sah.
Dann rannte sie auf den Hauptweg, um von vorn her durch den
Haupteingang zu kommen.
Da kam ihr jemand entgegen, mit dem sie fast
zusammenstieß.
*
Olivia Santieno prallte mit einem Aufschrei zurück.
»Olivia!« hörte sie im gleichen Augenblick eine
vertraute Stimme. »Was ist
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