Macabros 061: Wenn Shimba Loos Todesruf erschallt
verstummte er, nickte verschiedene Male und setzte seinen
Monolog dann fort.
»Vielleicht bist du der einzige, der es weiß, mein
Sklavenhalter und Freund zugleich. Nur dir habe ich es zu verdanken,
daß ich jetzt hier stehe und auf den Spuren meiner
Vergangenheit wandle…«
»Die Vergangenheit?« unterbrach er sich selbst, und
seine Stimme klang plötzlich ganz anders. Deutlich war aus den
englisch gesprochenen Worten ein französischer Akzent
herauszuhören. »Was ist schon die Vergangenheit? Sind denn
Gegenwart und Vergangenheit nicht ein und dasselbe? Gehören sie
nicht beide zum Strom der unendlich lang fließenden
Zeit?«
Mit seiner alten Stimme sprach Gerlon weiter: »Vergangenheit
und Gegenwart sind so gleich wie das Wasser eines Flusses an Quelle
und Mündung. Und so ist es auch mit der Zeit. Wo ist da der
Unterschied? Ich habe den Strom für einen Augenblick verlassen,
mehr nicht… aber ich muß die Spuren meiner Vergangenheit
finden.«
»Wenn du den Lord gefunden hast, wirst du die erste Phase
deiner Erkenntnis durchlaufen haben«, sagte der Franzose in
Charles Gerlon. »Du wirst den Weg deiner Vergangenheit
finden…«
Auf der Stirn des Amerikaners perlte der Schweiß. Schwer
atmend ließ er sich auf sein Kopfkissen zurückfallen.
Einige tiefe Atemzüge waren noch zu vernehmen, dann verstummte
der Kunsthändler.
Kein Wort kam mehr über seine Lippen. Von einem Augenblick
zum anderen schlief er wieder fest.
Wer ihn so sah, hätte die eben erlebte Szene nicht für
möglich gehalten. Der Schlafende machte einen ganz normalen
Eindruck.
Nichts unterschied ihn in diesem Moment von anderen Menschen. Es
gab nichts Außergewöhnliches an ihm.
Und doch war er anders als seine Mitmenschen.
Charles Gerlon war zum Söldner einer unbegreiflichen Macht
geworden. Aber nicht mal er selbst wußte etwas davon…
*
Pünktlich um zehn hielt Lord Hathaways Rolls-Royce vor dem
Hotel des Amerikaners.
Charles Gerlon war auf das Geschäft vorbereitet. Seit zwei
Stunden war er wach. Er glaubte, eine ruhige Nacht verlebt zu haben
und fühlte sich ausgeruht und entspannt.
Eine bessere Verfassung hätte er sich für den geplanten
Geschäftsabschluß gar nicht wünschen können.
Der Lord begrüßte den Amerikaner, und Gerlon stieg in
den Luxuswagen.
»Der Landsitz meines Bruders befindet sich etwas
außerhalb«, berichtete Hathaway und gab seinem Chauffeur
das Zeichen loszufahren. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus,
wenn wir eine Stunde Fahrzeit einkalkulieren müssen? Ich bringe
Sie natürlich später wieder zu Ihrem Hotel
zurück.«
»Aber das stört mich ganz und gar nicht«, wehrte
der Amerikaner mit einer Handbewegung ab. »Ich habe
Zeit.«
»Gezwungenermaßen«, fügte er nach einer
kurzen Pause noch hinzu. »Sie wissen ja, der
Inspektor…«
Der Lord nickte. »Reden wir nicht mehr davon. Machen Sie sich
ein paar schöne Urlaubstage in London. Sie werden sich wundern,
was es hier alles zu entdecken gibt.«
»Mal sehen, vielleicht nehme ich Sie beim Wort«,
erwiderte der Kunsthändler. »Aber jetzt möchte ich
erst mal Ihren Gerald Baskin entdecken…«
Fünfzig Minuten später hatten sie das Anwesen von Lord
Hathaways verstorbenem Bruder erreicht. Sie verließen den Wagen
und gingen auf das Haus zu.
Der Chauffeur fuhr mit dem Rolls-Royce weiter.
»Er muß den Wagen noch zur Inspektion bringen«,
erklärte der Lord. »Ich werde Sie dann später mit dem
Wagen meines Bruders in Ihr Hotel zurückbringen. Sein Jaguar
steht in der Garage.«
»Sie werden mich zurückbringen«, wunderte
sich der Amerikaner. »Haben Sie denn keinen zweiten Chauffeur
mehr hier? Leben keine Dienstboten hier im Haus?«
Der Lord verneinte. »Es lohnt sich nicht«, erklärte
er. »Erstens würde das Halten von Personal Unsummen
verschlingen, und zweitens weiß man ja nie, was diese Leute
alles unter der Hand verschwinden lassen. Ich bin schon oft bestohlen
worden.«
Der Amerikaner ließ seine Blicke schweifen. Man merkte,
daß der Rasen seit zwei Monaten nicht mehr geschnitten worden
war. Der Park stand im ersten Stadium der Verwilderung.
»Ich werde das Anwesen hier verkaufen«, sagte Mallory
Hathaway, als hätte er Gerlons Gedanken erraten. »So lohnt
es sich wohl kaum, daß ich noch viel Geld in die Erhaltung
investiere. Sobald die Bilder und die wertvollsten Stücke der
Einrichtung veräußert sind, gebe ich ein Inserat auf. So
sehr mir das Haus hier gefällt – leider bin ich ein alter
Mann geworden…«
Der
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