Macabros 064: Es erwacht der Ursen-Wahn
daß es ihm vor zwanzigtausend Jahren in
seinem Leben als Kaphoon gelungen war, ungeschoren diesen Tempel der
Glückseligkeit wieder zu verlassen?
»Ich bin – so schnell es geht – wieder zurück.
Überall in den Korridoren, Kammern, Gewölben und Tempeln
wird man nach uns suchen. Aber nicht hier – und auch nicht im
Palast selbst.«
Er wußte genau, wohin er sich wenden mußte, um in den
Palast zu kommen. Das war seltsam, denn den Ausgang aus diesem Tempel
kannte er nicht.
Manchmal kam es ihm so vor, als ob es da irgend etwas gebe, das
ihn daran hinderte, den vollen Umfang der Erkenntnisse zu gewinnen.
Wie ein posthypnotischer Befehl wirkte da etwas nach, wenn er nur
wüßte, was es war…
Er gab sich selbstsicher. »Wir werden es schon
schaffen.« Während er das sagte, war er jedoch mit seinen
Gedanken ganz woanders.
Er glaubte sich erinnern zu können, daß er seinerzeit
durch einen geheimen Schacht in das Innere dieses Tempels gelangt war
und von hier aus den Weg über die Treppen und den Geheimstollen
durch das Standbild genommen hatte. Wenn er den Säulengang
geradeaus lief, stieß er genau auf das Portal, das in den
Palast führte, aus dem er seinerzeit Loana raubte…
Er durchquerte den Tempel und lief die steilen Treppen in die
Höhe. Er teilte seine Kräfte gut ein und kam nur
geringfügig außer Atem. Ohne den geringsten Zwischenfall
erreichte er die Stelle, wo sich der geheime Mechanismus befand.
Einen Moment lang blieb Hellmark lauschend stehen. Er hörte
nicht das geringste Geräusch. Dann erst drückte er auf die
Erhebung in der Mulde.
Lautlos teilte sich die steinerne Wand vor ihm. Ganz langsam
verbreiterte sich der Spalt, und er konnte hinaussehen in den
menschenleeren Säulengang.
Er vergewisserte sich, daß niemand ihn sah, und
verließ dann vorsichtig sein Versteck.
Er versäumte es nicht, den mittleren der drei rubinfarbenen
Brillanten zu drücken, um den Spalt wieder zu
verschließen. Niemand sollte diesen Fluchtweg kennenlernen.
Auf Zehenspitzen eilte er schließlich in den Tempelgang, in
dem vorhin zahllose Feuerbestien aufgetaucht waren…
*
Sie waren allein.
Sie sollten sich geborgen fühlen, doch das Gefühl kam
nicht auf.
Auch Carminia spürte, daß hier etwas nicht mit rechten
Dingen zuging. Doch sie ließ sich nichts anmerken, um Pepe
nicht zu ängstigen.
»Carminia!« wisperte der Junge.
»Ja, Pepe?«
»Da oben… an der Wand… direkt unter der Decke…
siehst du das auch?«
Sie hob den Blick, wollte etwas sagen – doch die Worte
blieben ihr wie ein Kloß im Hals stecken.
In den schattigen Ecken unterhalb der Decke bewegte es sich. Es
schien, als ob dort Fledermäuse hockten, die sich plötzlich
zu regen begännen oder Schatten, die zum Leben
erwachten…
In den breitlaufenden Reliefbildern schien der Stein zu atmen, zu
pulsieren.
Ursen!
Carminia Brado hatte in dieser Sekunde die gleiche Vision wie kurz
zuvor Björn Hellmark.
Auch sie sah die Armee der kämpfenden Ursen in den
Reliefdarstellungen, die sonst unsichtbar waren.
Nur mit einem Unterschied: Sie waren nicht mehr aus Stein! Die
Ursen dort unter der Decke – lebten und atmeten. Rundum wimmelte
es von den fischgesichtigen Feinden.
*
Lautlos wie ein Schatten bewegte er sich durch den schmalen
Korridor.
Er mußte zurück über die Galerie und von da aus
über die Treppen, die ihn zu dem blütenähnlichen
Gebilde hinabführten.
Die Bilder in Hellmarks Erinnerung wurden immer klarer. Jetzt nach
seiner Rückkehr aus dem ›Tempel der
Glückseligkeit‹ wußte er auch wieder, in welcher
Richtung sich der Palast befand.
Es war erstaunlich, daß er Carminia so weit abseits gefunden
hatte. Dies war ein glücklicher Zufall. Sie mußte die
ganze Zeit über durch das Labyrinth der Durchlässe geirrt
sein, unbewußt jene Halle suchend, die offensichtlich einen
gewissen Schutz versprach.
Aber selbst da war er sich nicht mehr ganz sicher. Damals, in
seinem ersten Leben als Kaphoon, war etwas geschehen, das er nicht
mehr richtig zusammenbekam.
Beunruhigt drängte es ihn zur Eile.
Er passierte die Halle mit den Blütentreppen und der Galerie
und hielt sich links. In Form bizarrer, phantastisch veränderter
Regenbögen überquerte er Teiche und Schluchten, die den
Eindruck vermittelten, als würde er über die Erde schweben,
wie sie zu Anbeginn der Zeiten gewesen war.
Wer waren die Erbauer dieser Hallen und Höhlen, Schluchten
und Täler im Innern des gigantischen Schädeltempels?
Das Ende
Weitere Kostenlose Bücher