Macabros 082: Das magische Vermächtnis der grauen Riesen
trau’ selbst ich mich nicht mal«, sagte Ranis
Gesprächspartner. »Sie fressen mir zwar aus der Hand, aber
alles aus der richtigen Distanz.«
Er hielt in jeder Hand einen Fleischbrocken und schob ihn
vorsichtig durch die Gitterstäbe. Der Mann plauderte leise
weiter, man sah ihm aber an, daß er höchste Aufmerksamkeit
walten ließ. »Ich besitze sie beide jetzt drei Jahre lang.
Aber so ganz trau’ ich ihnen immer noch nicht…«
Er bückte sich, nahm zwei neue Brocken aus der Schüssel,
während die beiden Tiere in dem Käfigwagen
größere Teile herausrissen und verschlangen.
Der Mann richtete sich auf. Er wollte fortfahren in dem
gemütlichen Plauderton, als er plötzlich stutzte.
»Seltsam…«, sagte er mit einem Mal nur.
»Was ist seltsam?«
»Ich mußte gerade an jemand denken… diese
Ähnlichkeit. Irgendwie, so kommt es mir vor, habe ich Sie schon
mal gesehen…« Der Sprecher kratzte sich im Nacken.
»Irgendwie erinnern Sie mich an jemand…« Er zerrte
zwei weitere Fleischbrocken aus der Schüssel und warf sie den
hungrigen Tieren zu.
»Ich bin nicht nur ein großer Tiersondern auch ein
ebenso großer Zirkusfreund«, nickte Rani. »Vielleicht
war’s mal bei so ’ner Gelegenheit. Ich bin oft im Zirkus.
Dann sitze ich grundsätzlich ganz vorn.!«
»Schon möglich, daß Sie mir da aufgefallen
sind.«
Der Dompteur, der seine Tiere fütterte, wandte Rani Mahay den
Rücken zu. So entging dem Mann, wie der Inder sich bückte,
in die Schüssel griff und mit bloßen Händen die
blutigen Fleischstücke herauszerrte.
Rasch war Rani neben dem Mann und steckte den ganzen Arm durch die
Gitter.
Der Dompteur fuhr sie von einer Tarantel gebissen herum.
»Zurück! Sind Sie von Sinnen, Mann… wie .?«
Der Rest seiner Worte blieb ihm wie ein Kloß in der Kehle
stecken.
Was er sah, kam ihm vor wie ein Traum.
Die beiden bengalischen Tiger stürzten sich nicht
brüllend auf den Arm des Fremden. Wie liebe Katzen begannen sie
zu schnurren und nahmen die Fleischbrocken brav und mit
äußerster Vorsicht aus seiner Hand.
Dem Dompteur fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Das gibt’s doch nicht! Die…kennen Sie doch gar
nicht… normalerweise…« Da fiel es ihm wie Schuppen von
den Augen. »Jetzt weiß ich es wieder«, stieß er
plötzlich hervor und konnte seinen Blick nicht wenden von dem
unheimlichen, für ihn unwirklichen Bild. Die beiden Katzen
leckten Ranis von den Fleischstücken blutverschmierten Finger
ab. »Ich habe Sie im Zirkus gesehen… richtig… aber
nicht als Zuschauer, sondern als Akteur. Sie sind Rani Mahay, der
Koloß von Bhutan, der Mann, der mit bloßem Willen
Raubtiere zähmt…« Er sagte es beinahe andächtig
und mit leuchtenden Augen.
Rani zog seine Hände zurück, lachte leise und wusch
seine Finger gründlich mit kaltem Wasser einer Pumpe. »Das
ist schon einige Zeit her… den Koloß von Bhutan gibt es
schon lange nicht mehr…«
»Ich habe mich immer gefragt, warum Sie aufgegeben
haben…«
»Das waren persönliche Gründe.«
»Ich habe Sie bewundert. Mein Name ist Edouard…«
Der Dompteur streckte Rani die Rechte hin, die dieser ergriff.
»Ich freue mich, einen so großartigen Kollegen
persönlich kennen zu lernen.« Die Freude Edouards war echt.
»Ich weiß nicht, welche persönlichen Gründe Sie
damals veranlaßten, auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere
aufzugeben, aber was immer es auch gewesen sein mag, ich würde
Sie nie danach fragen. Wenn Sie eine Arbeit suchen, wieder neu
anfangen möchten – ALBATROS öffnet Ihnen Tür und
Tor. Ich kann so sprechen, ich bin einer der Inhaber. Vielleicht ist
es vermessen, Ihnen dieses Angebot zu machen. Dieser Miniaturzirkus
ist für einen Mann wie Sie eine Zumutung, aber wir würden
Ihnen trotz aller finanziellen Schwierigkeiten, mit denen wir stets
zu kämpfen haben, die Gage zahlen, die Sie sich selbst
erwählen. Der Name Rani Mahay, die Schlagzeilen, daß der
›Koloß von Bhutan‹ ab sofort im ALBATROS in zwei
Vorstellungen zu sehen ist – würde für volle Kassen
sorgen. Davon bin ich überzeugt…«
»Tut mir leid, Edouard… deshalb bin ich nicht hier. Ich
suche keine Arbeit. Vielleicht würde ich gern mal eine
Gastvorstellung geben – die natürlich ohne
Bezahlung.«
Edouard wollte protestieren, doch Rani ließ erst gar keinen
Protest aufkommen. »So ganz uneigennützig ist dieser
Vorschlag sowieso nicht, Edouard. Ich möchte gern jemand unter
vier Augen sprechen, von dem ich glaube, daß er in eurem Zirkus
ist.«
»Wer
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