Macabros 102: Die Finsterlinge von Krosh
erhielt. Ich kann die Negative bekommen. Das
kostet allerdings einiges…«
»Du hättest sofort die Polizei verständigen
müssen!«
»Das hätte nichts genutzt.«
»In einem solchen Fall nutzt es immer etwas. Du hast nichts
zu befürchten…«
»Ich habe mir das alles gründlich durch den Kopf gehen
lassen, Jean-Paul. Erstens kenne ich die Leute nicht, die diese
Bilder angefertigt haben und nun Geld von mir verlangen. Gehe ich
nicht auf deren Forderungen ein, wird ein Foto nach dem anderen
veröffentlicht. Mit meinem vollen Namen.«
»Wieviel verlangen sie?«
»Achttausend Francs.«
»Das ist viel Geld.«
»Oui. Ich habe es nicht, mit meinem Vater kann ich über
die Sache nicht reden. So gut verstehen wir uns nicht. Er würde
mich aus dem Haus jagen, wenn er die Bilder zu Gesicht
bekäme.«
Sie hatte den Kopf gesenkt, und wieder glänzten Tränen
in ihren Augen. Jede Einzelzeit des Gesprächs war noch in ihrer
Erinnerung. Achttausend Francs waren viel Geld – aber nicht
zuviel für Jean-Paul. Sie ging davon aus, daß er einiges
auf der hohen Kante, hatte. Und wenn er wirklich so scharf auf sie
war, dann würde er auch bereit sein, etwas für sie zu tun.
Sie hatte einen Mittelwert angesetzt, um nicht unverschämt zu
erscheinen.
»Und wenn du die achttausend bezahlt hast, schicken sie dir
die Negative?«
»Oui.«
»Wer garantiert dir, daß sie sich daran
halten?«
»Ich werde das Geld nicht schicken, sondern selbst
überbringen.«
»Aber ist das nicht zu gefährlich?«
»Wenn sie erhalten, was sie gefordert haben – was soll
daran gefährlich sein?« Und bei diesen Worten hatte sie
ihre halbgeöffneten Lippen seinem Gesicht genähert.
»Jean-Paul… ich vertraue dir. Ich mag dich sehr. Beides
zusammengenommen hat mir den Mut verliehen, dich überhaupt auf
diese leidige Sache anzusprechen. Wenn du mich nur ein kleines
bißchen magst…«
»Ein kleines bißchen?« Er konnte sich kaum
beherrschen. Ihre Nähe erregte ihn. »Ich bin verrückt
nach dir, Claudia. Ich – liebe dich… Ich würde alles
für dich tun, was du von mir verlangst. Daß ich dir helfen
darf, ist die größte Freude, die du mir bereiten
konntest.«
»Es soll dein Nachteil nicht sein. Wenn du dir so sehr
wünschst, mit mir zusammen zu sein, Jean-Paul, dann werde ich in
der Nacht vor meiner Abreise nach Paris, wo ich das Geld
überbringen muß – mit dir schlafen…«
*
Und diese Nacht war gekommen. Heute…
Wie sehr hatte sie diesen Zeitpunkt herbeigesehnt!
Diesmal würde sie anders in Paris ankommen, als beim
erstenmal. Mit achttausend Francs in der Tasche.
Das war ein Startkapital, mit dem sich etwas anfangen ließ.
Weiteres Geld war dann auf leichte Weise hinzuzuverdienen. Zumindest
kam sie nicht völlig abgebrannt in der Seine-Metropole an.
Claudia Sevoir schlüpfte in eine Bluse, stieg in einen
weitschwingenden, buntbedruckten Leinenrock und öffnete dann das
Fenster.
Seit über einem Jahr schlief sie in der zweiten Etage des
Hauses. Das hatte ihr Vater so eingerichtet, um zu verhindern,
daß sie unbemerkt aus dem Haus schlich. Da waren die Treppen,
die knarrten…
Aber schließlich mußte man nicht unbedingt Stufen
benutzen, um ein Haus zu verlassen.
Da gab es auch noch die Fenster. Und wenn man ein bißchen
gewandt klettern konnte, war das Problem schon gelöst.
Das alte Haus bot der langbeinigen, sportlichen Claudia Sevoir
Trittpunkte, wohin sie ihre Füße setzen konnte.
Die blatternarbige Hauswand war nicht vollkommen glatt. Die
schmalen Backsteine ragten manchmal mehrere Zentimeter nach
außen. Platz genug, sich mit den Fußspitzen dort
abzustützen. Auch Haltemöglichkeiten gab es
ausreichend.
Alte rostige Haken und sogar ein aus dem Mauerwerk ragender
Balkenstumpf waren vorhanden.
Nach der nächtlichen Generalprobe klappte es vortrefflich.
Ohne Zwischenfall kam Claudia unten an. Leichtfüßig sprang
sie auf.
Es gab einen dumpfen Klang. Mehr nicht.
Weder die Hühner noch die Schweine in den Ställen wurden
unruhig. Alles blieb still.
Die Nacht war kühl. Unangenehmer Wind strich vom Meer her
übers Land.
Claudia hätte gut eine Jacke oder einen Mantel gebrauchen
können, hatte aber der Einfachheit halber darauf verzichtet.
Achttausend Francs waren ihrer Meinung nach Gepäck genug. In
Paris konnte sie sich dann alles kaufen, was sie brauchte. Von hier
wollte sie nichts mitnehmen. Diesmal machte sie endgültig einen
Strich unter ihr bisheriges Leben. Und diesmal mußte es ihr
auch gelingen, sich
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