Macabros 125: Das Zauber-Pergament
oberhalb der Knie und war jetzt nur noch
bis zu den Hüften abwärts zu sehen.
Das alles war das Werk weniger Sekunden!
Als Hellmark und Rani Mahay die Gefahr für Carminia
erkannten, wurden auch sie schon davon erfaßt.
Unter Ranis Füßen begann sich der Boden
spiralförmig abwärts zu drehen und der nach unten
wegsackende, feinkörnige Sand riß ihn mit in die Tiefe,
während Björn Hellmark wie von einer unsichtbaren
Riesenfaust in die Höhe geschleudert wurde und wie zuvor
Carminia Brado in waagrechte Haltung gezwungen wurde.
Die Brasilianerin schrie gellend auf. Ihr Schrei hallte schaurig
über die Wüstenlandschaft.
In das Entsetzen mischte sich überlaut ein Lachen.
Wer da lachte, war eindeutig zu erkennen.
Hellmarks unsichtbarer Begleiter, Doc Shadow, der Geist der
Schattenwelt!
*
Die Asthände lösten sich von ihm.
Sie ließen einfach los, und Pepe fiel aus rund zwei Metern
Höhe nach unten.
Geistesgegenwärtig federte er sich ab und blieb benommen
einige Sekunden auf dem Boden hocken.
Der war nicht weich, sondern hart und glatt.
Wie schwarzer Fels.
Pepes Atem flog.
Der furchtbare Baum, der sich mit seinen Wurzeln aus dem Boden
gerissen und ihn hierher verschleppt hatte, schien damit seinen
Auftrag erfüllt zu haben.
Er machte kehrt und lief in die Dunkelheit zurück.
Vorn lag der Eingang, der in den Riesenbaum führte.
Pepe sah, wie die Buche wankend darauf zulief, sekundenlang die
Öffnung mit ihrer ganzen Größe füllte und dann
die Allee weiterging, durch die sie eben gekommen waren.
Der Baum hatte jegliches weitere Interesse an ihm verloren.
Das war seine Chance!
Pepe handelte.
Er sprang auf und warf sich nach vorn.
Er sah die fahlen Gesichter zu beiden Seiten und ahnte, was aus
denjenigen wurde, die hier in der Höhle landeten. Sie wurden zu
gespenstischen Wesen – ohne Körper. Vor ihm waren schon
viele andere entführt worden und hatten keine Gelegenheit mehr
gefunden, darüber noch etwas zu berichten.
Aus den Augenwinkeln nahm er den traurigen Ausdruck in den
blassen, flachen Gesichtern wahr und registrierte die feucht
schimmernden Augen.
Pepe lief wie von Sinnen und verausgabte sich.
Er geriet in Schweiß, sein Herz hämmerte bis zum
Hals.
Der schwarzgelockte Junge sah den Ausgang greifbar nahe vor sich,
kam ihm aber um keinen Zentimeter näher.
Pepe rannte auf der Stelle und wurde frappierend an einen Alptraum
erinnert, in dem man vor einer furchtbaren Gefahr davonzulaufen
versucht.
Der Junge lief und kam doch keinen Millimeter voran. Vor ihn legte
sich ein dunkles, netzartiges Gespinst. Es sah aus wie ein
dünnes, aber sehr widerstandsfähiges Wurzelgeflecht, das
aus beiden Seiten wuchs.
In dem Moment, als der Eingang vollends versperrt war, machte Pepe
einen Satz nach vorn.
Plötzlich konnte er sich von der Stelle bewegen und warf sich
dem Eingang entgegen, aber es nutzte ihm nichts mehr.
Die Öffnung war zugewachsen, und alle seine Bemühungen,
die nur fingerdicken Wurzeln auseinanderzuziehen, waren umsonst.
Er war gefangen im Innern des riesigen Baumes.
Außer Atem gab Pepe schließlich auf.
Erschöpft und enttäuscht krallte er seine kleinen
Hände in das widerstandsfähige, unnachgiebige Gespinst und
ließ den Kopf langsam nach vorn sinken.
Er konnte durch die engen Spalten zwischen den einzelnen Fasern in
die Nacht blicken.
Da lag die seltsame Baumallee, dahinter irgendwo das Wäldchen
mit dem Spiegel der Kiuna Macgullyghosh und Danielle und
Jim…
Pepe wußte nicht, wie lange er so gegen die Wurzelwand
gelehnt stand, ehe er seine fieberheiße Stirn wieder davon
löste und sich dann langsam umwandte.
Er sah sich die oberhalb Kopfhöhe schwebenden Gesichter
eingehend an.
Es waren Menschen aller Altersklassen, junge und alte, und es
waren Männer und Frauen darunter.
Langsam ging Pepe zwischen den Gesichtern entlang. Der Weg in die
dunkle Baumhöhle kam ihm unendlich vor.
»Wer seid ihr?« hörte er sich fragen. »Wie
kommt ihr hierher und was ist mit… euch geschehen?«
Er blieb abwartend vor einem Geist stehen.
Es war das stille, ernste Antlitz eines jungen Mädchens, das
ihn aus großen Augen ansah.
»Sag mir, wer du bist?« fragte er sie noch mal ganz
gezielt, nachdem seine pauschal an alle gerichtete Bemerkung kein
Echo gefunden hatte.
»Ich heiße Verena…«
Leise und sanft war ihre Stimme, so daß er meinte, ein
Windhauch käme aus ihrem Mund.
Sie bewegte die blutleeren Lippen und sah ihn unendlich traurig
an.
Tränen
Weitere Kostenlose Bücher