Macabros 125: Das Zauber-Pergament
dunklen, knorrigen Fasern erinnerten an bizarre Adern, die
ineinander verflochten waren und zu einem einzigen riesigen
Körper zu gehören schienen.
Im Dunkeln schwebten wie fahle Mondscheiben die flachen
Menschengesichter. Die Augen bewegten sich darin und beobachteten den
einsamen Jungen, der nach dem zweiten, von Verena erwähnten
Ausgang suchte.
Pepe hatte das Gefühl, durch einen düsteren Tunnel zu
gehen, in dem die Gesichter wie flache Zifferblätter
großer Uhren leuchteten.
Er war in einem Dämonen-Panoptikum angelangt und wenn er den
wispernden Stimmen der Gespensterbäume Glauben schenken konnte,
würde auch er einer der ihren.
Die Gesichter waren ein Teil des Grauens, die
Gespenster-Bäume ein weiterer. Die Psyche der hier
festgehaltenen Menschen war gespalten.
Sie erkannten zwar noch ihr eigenes Ich, aber sie waren
gleichzeitig auch Teil des Lebens der Bäume.
Es ging blitzschnell.
Noch während Pepe diese Überlegungen durch den Kopf
gingen, tauchte die Gestalt vor ihm auf.
Wie aus dem Boden gewachsen stand sie plötzlich vor ihm.
Der personifizierte Tod!
Das Gerippe aber bestand nicht aus bleichen Knochen, sondern aus
sich verflechtenden graubraunen Baumwurzeln. Der Schädel war ein
Totenkopf, der aussah, wie aus einer besonders dicken Wurzel
geschnitzt. Tief ausgehöhlt waren die Augen, gleichsam
unergründliche Löcher.
Der Tod hob die Sense.
Es war keine gewöhnliche. Nicht das Sensenblatt war daran
befestigt, sondern der leicht gebogene, rasiermesserscharfe Schnabel
eines Vogels.
Mit einem Ruck führte der Tod sein bizarres Werkzeug durch
die Luft.
Der lange Raubvogel-Schnabel schien sich im gleichen Augenblick
selbständig zu machen.
Pepe duckte sich instinktiv und wäre dem Streich garantiert
entkommen, wenn der Schnabel nicht wie ein selbständiges
Lebewesen gehandelt hätte.
Er stieß nach vom.
Pepe fühlte einen heftigen Hieb mitten im Nacken und schrie
gellend auf.
Sein Schrei schien überhaupt kein Ende zu nehmen.
Er hallte schaurig durch den Tunnel, der aussah wie das Labyrinth
inmitten einer Geisterbahn.
Die flachen, leuchtenden Mondgesichter wandten sich ihm zu, und er
hörte aus zahllosen Mündern – auch aus dem Verenas
– ein häßliches, triumphierendes Lachen.
Dann sah er seinen Körper unter sich und erkannte, daß
er sich immer weiter von ihm entfernte.
Das kalte Grauen packte ihn.
Er wollte sich erheben, aber er konnte nicht.
Der Körper dort unten – hatte keinen Kopf mehr!
Sein Kopf schwebte in die Dunkelheit zwischen dem Wurzelgeflecht
und wurde zu einem der flachen, leuchtenden Mondgesichter.
*
Die junge Französin drehte ihre Runde und achtete genau auf
ihre Umgebung.
Alles war unverändert.
Vor ihr stand an einen dünnen, krummen Baum gelehnt der
Spiegel der Kiuna Macgullyghosh.
Leise spielte der Wind in den belaubten Wipfeln.
Im grauen Morgenlicht zwischen den Bäumen erkannte sie die
auffällige Gestalt von Jim, dem Guuf.
Der Junge mit dem Dämonengesicht winkte ihr zu. Das war das
Zeichen, daß alles in Ordnung war.
Dennoch verließ sich Danielle de Barteaulieé nicht
nur auf dieses Zeichen, sondern begab sich direkt zu Jim.
»Alles in Ordnung?« fragte sie halblaut.
»Ja, keine besonderen Vorkommnisse«, meldete der Guuf.
»Was sollte hier auch schon passieren?« fügte er die
Frage an. »Auf der anderen Seite des Spiegels könnte ich
mir eher einige Schwierigkeiten vorstellen. Aber da dürfen wir
ja nicht mitmischen…« Wie er das sagte, klang es beinahe
bedauernd.
»Es ist vielleicht ganz gut so. Sich sicher zu fühlen,
ist eine feine Sache, meinst du nicht auch?«
»Schon«, gestand Jim kleinlaut, der nur zu gut um die
unberechenbaren Gefahren wußte, die auf Hellmark und dessen
Freunde stets lauerten.
Danielle legte freundschaftlich ihre Hand auf seine Schulter und
ging weiter.
Etwa eine Steinwurfweite von Jims Beobachtungsplatz entfernt,
hielt Pepe sich auf.
Sie sah den schwarzgelockten Jungen lässig gegen einen
Baumstamm gelehnt.
Danielles Schritte verursachten raschelnde Geräusche in dem
faulenden Laub und den Zweigen, die überall zwischen den
Bäumen lagen.
»Alles klar, Jim?« fragte sie auch den Jungen aus
Yucatáns Urwäldern.
Pepe lächelte und blickte die junge Französin an.
»Alles in Ordnung, Danielle! Wenn etwas Besonderes wäre,
hätte ich mich schon bemerkbar gemacht.«
*
»Gut«, nickte die jugendliche Französin. Sie wirkte
wie achtzehn oder zwanzig, und wurde niemals älter.
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