Macabros Neu 01 - Der Leichenorden von Itaron
dafür, dass die beiden anderen Besucher beim Frühstück nicht aufgetaucht waren – Christiane hatte wahrscheinlich die dringende Familienangelegenheit nur vorgeschoben, weil ihr der Maler zu unheimlich geworden war … und die andere packte in diesen Minuten womöglich ebenfalls ihre Koffer.
»Aber nein, aber nein! Du kannst nicht gehen, du darfst nicht gehen!«
»Ich wüsste nicht, dass wir beim vertrauten Du angelangt sind«, protestierte sie. Und verbieten ließ sie sich schon gar nichts! Was bildete sich dieser alte Kauz eigentlich ein? So wichtig waren ihr seine Bilder auch wieder nicht.
Im nächsten Augenblick wurde Hannah eines Besseren belehrt.
Bornier zog mit Schwung eine der Abdeckungen eines Bildes weg.
Hannah war augenblicklich fasziniert. Dies war das Schloss, nach dessen Anblick sie die vergangenen Stunden gefiebert hatte … das Schloss mit den filigranen Türmen, das sie so sehr berührte, etwas in ihrem Innersten weckte, eine Erinnerung oder …
»Schau es dir an«, forderte Bornier. »Komm näher und lerne!« Schon war er am nächsten Bild, legte es ebenfalls frei.
Hannah ging voran, als sei sie eine Marionette, die an Fäden gezogen wird. Ihr war, als lenke ein anderer jeden ihrer Schritte.
Sie blieb vor einem der Bilder stehen, ging in die Knie, schaute fasziniert auf die noch leicht feuchten, glänzenden Ölfarben.
»Die Szenerie ist so lebendig«, sagte sie ergriffen. »Es ist, als müsse sich jeden Augenblick eines der Fenster öffnen, damit die Bewohner frische Luft hineinlassen können. Dieses Schloss scheint zu leben, zu existieren – es ist, als hätten Sie es mit eigenen Augen gesehen.«
Bornier hinter ihr kicherte nur. Er stand so gebückt, dass sie, obwohl sie kauerte, seinen Atem im Nacken fühlte. Auch roch sie penetranten Gestank, doch sie störte sich nicht daran. Der Anblick des gemalten Schlosses nahm sie gefangen.
Beiläufig hörte sie ein Quietschen – Bornier verrückte das Gestell eines anderen seiner Werke. Er positionierte es seitlich neben ihr und zog die Abdeckung weg. Auch dieses Bild zeigte das bekannte Motiv.
Genau wie zwei weitere, die Bornier freigab, ohne ein Wort zu sagen.
Hannah war förmlich von den Gemälden umringt, stand genau in ihrem Mittelpunkt.
»Sie ist dein!«, flüsterte Bornier.
»Bitte?«, fragte Hannah verwirrt.
Erst am abwesenden Blick des Malers bemerkte sie, dass dieser gar nicht mit ihr gesprochen hatte.
»Rha-Ta-N’my«, rief Bornier. »Hol die Auserwählte zu dir!«
Die neuerliche Erwähnung dieses seltsamen, unheimlich klingenden Namens machte Hannah Angst. In Borniers Augen blitzte reiner Fanatismus, seine Hände vollführten unsinnige Bewegungen vor der Brust.
»Warum holst du sie nicht?«, rief er lauter als zuvor. »Zieh sie in die Bilder, wie du es immer getan hast!«
Hannah starrte entsetzt auf Bornier. Wovon redete er da? Zwar wollte der Anblick der Gemälde sie schon wieder gefangen nehmen, doch sie zwang sich, nicht hinzusehen. Stattdessen versuchte sie, aus dem Bilderkreis herauszusteigen. Nichts wie fort von hier!
»Bleib stehen«, herrschte Bornier sie an. »Du darfst nicht gehen! Rha-Ta-N’my braucht deine Seele!«
»Sie sind ja wahnsinnig«, brach es aus Hannah heraus.
»Ri-la’rh!«, brüllte Bornier plötzlich. »Braucht es dich und deine Magie, damit es beginnt? Dann komm her! Ich befehle es dir!«
Hannah verzog angewidert das Gesicht. Sie schob eines der Bilder beiseite, schuf sich einen Weg nach draußen.
»Fass sie nicht an! Hörst du? Fass – sie – nicht – an! Sie sind heilig!«
Hannah wankte zurück. Nun wurde ihr in vollem Ausmaß bewusst, dass sie in die Fänge eines Wahnsinnigen geraten war. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was in der Nacht, als sie arglos geschlafen hatte, alles hätte geschehen können. Man las so viel in den Zeitungen.
Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, dass das, was sie soeben befürchtet hatte, gerade erst begann. Mit einem Mal hielt der Maler ein langes, blitzendes Messer in der Hand.
Die anderen lassen sich für den Vormittag entschuldigen, erinnerte Hannah sich an Borniers Worte von heute Morgen. Jetzt begriff sie auch, was er damit gemeint hatte … Übelkeit stieg in ihr hoch, Schwindel erfasste sie. Die Welt schien plötzlich aus nichts anderem mehr zu bestehen als dieser blutverkrusteten Messerklinge.
Doch zwischen ihr und der Tür – stand der Wahnsinnige!
Zuerst wollte Hannah eingeschüchtert und erschrocken stehen bleiben, doch dann
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