MacAllister 6 Die schottische Wildkatze
sollte ich da vergessen?« Kestrel saß ab und ging zu Raziel, schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Dankbar, dass die Spannung gebrochen war, schwang sich auch Lochlan aus dem Sattel und half dann Catarina vom Pferd.
Als sie sich dem Sarazenen näherten, verengten sich Raziels dunkle Augen zu gefährlich schmalen Schlitzen.
»Sie sind keine von uns«, knurrte er zu Kestrel. »Wen hast du hergebracht und weshalb?«
»Ich bin Lochlan MacAllister.«
Mit einem Laut, der fast wie das Fauchen eines Raubtiers klang, zog der Sarazene eines der Schwerter und hielt es Lochlan an den Hals. »Bist du verrückt?«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Der Schotte verliert den letzten Rest seines Verstandes.«
Lochlan konnte kaum atmen, als Vorfreude, Furcht und Zweifel zugleich auf ihn einstürmten. »Er ist mein Bruder. Ich möchte ihn sehen.«
»Ihr habt ihn im Stich gelassen.« Der Vorwurf hing klar und deutlich in der Luft, aber es entsprach nicht der Wahrheit, das wusste Lochlan genau.
»Ich habe keinen meiner Brüder jemals im Stich gelassen. Nie. Und ich werde diese Lüge nicht unwidersprochen stehen lassen.«
»Ich glaube ihm«, bemerkte Kestrel und schob Raziels Klinge mit der bloßen Hand zur Seite. »Er ist weit gereist für die Wahrheit. Warum sprechen wir nicht erst allein mit dem Schotten und sehen, was er zu sagen hat?«
Raziel schnaubte abfällig. »Du kannst von Glück reden, wenn du nicht wie ein Schwein abgeschlachtet wirst. Der Schotte interessiert sich nicht für die Vergangenheit.«
Dennoch setzte sich Kestrel weiter für sie ein. »Hab ein Herz, Raziel. Lochlan ist nicht wie meine Familie. Er wird den Schotten nicht dafür verurteilen, dass er überlebt hat. Lass uns mit ihm reden und hören, was er zu sagen hat.«
Raziel verzog abschätzig die Lippen, ehe er sein Schwert schließlich wieder in die Scheide auf seinem Rücken steckte. Jede seiner Bewegungen sprach von Verachtung. Er kniff die schwarzen Augen zusammen, ehe er eine leise, tödliche Warnung aussprach: »Wenn Ihr etwas sagt, was meinen Herrn kränkt, werde ich Euch die Zunge und das Herz herausschneiden.«
»Ich werde meinen Bruder nicht verletzen.«
Raziel blickte ihn ein letztes Mal an, ehe er sich umdrehte und sie durch den äußeren Hof führte.
Catarina nahm Lochlans Hand, als sie durch Wehranlagen schritten, die offensichtlich errichtet worden waren, um dem Jüngsten Gericht standzuhalten. Lochlan schüttelte den Kopf über die massiven Befestigungen. Kieran hatte nie Wert darauf gelegt. Obwohl sein Bruder ein guter Kämpfer mit hervorragenden Instinkten war, hatte sich Kieran nie für Auseinandersetzungen oder die Anführerrolle interessiert. Er wollte immer nur Mädchen nachsteigen.
Es war offenkundig, dass Lochlan einem völlig veränderten
Mann gegenübertreten würde als dem schmollenden Jungen, der von zu Hause weggelaufen war.
Auf ihrem Weg ins Burginnere zählte er wenigstens zwanzig Ritter, die auf den Mauern und dem Hof patrouillierten. Es wollte etwas heißen, wenn der Schotte genug Geld besaß, für sie zu zahlen, und verriet noch mehr über seinen Verfolgungswahn, dass sie auch nachts in dieser Zahl unterwegs waren. Offensichtlich war der Schotte bereit, gegen jeden zu kämpfen, der die Ungestörtheit seines Heims bedrohte.
Sobald sie den Burgfried erreichten, verwehrte ihnen Raziel den weiteren Zutritt. Sie mussten im Vorraum stehen bleiben. »Wartet hier und rührt euch nicht vom Fleck.«
»Darf ich mich wenigstens am Ohr kratzen?«, erkundigte sich Catarina, die bis dahin geschwiegen hatte, spöttisch.
Raziel verzog nur drohend die Lippen. »Haltet Ihr das etwa für komisch?«
Sie schüttelte den Kopf, dann sagte sie ernster: »Ich finde Tragödien nie lustig. Aber ich glaube fest daran, dass Ihr Gefahren seht, wo keine sind. Ihr tut einem aufrechten Mann großes Unrecht. Aber Ihr kennt eben seinen Charakter nicht.«
»Wie glücklich Ihr euch schätzen könnt«, versetzte Raziel, »dass das Leben bisher so sanft mit Euch umgesprungen ist und Ihr leicht Vertrauen fasst. Möge Allah stets so gnädig zu Euch sein.«
Nach diesen Worten führte er Kestrel die Stufen nach oben.
Cat bewegte sich erst wieder, als die beiden außer Sicht waren. »Nun«, erklärte sie und drehte sich zu Lochlan um, »Freundlichkeit ist hier keine Tugend, was?«
»Offenbar nicht. Möge Gott sie in Zukunft vor dem bewahren, was sie so hart gemacht hat, wie sie heute sind.«
Sie nickte. Er hatte recht.
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