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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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Kleider im Schrank, die keiner mehr anziehen würde, und auch jene Nacht, in der sie gemeinsam getanzt und gesungen hatten, diese Nacht, die sie so offen, nackt und unvorbereitet zurückgelassen hatte für das, was folgen sollte   …
    Idas Welt brach zusammen. Sie redete sich ein, Majkas Tod sei die Strafe dafür, dass sie Štefan auf die Straße gesetzt hatte. Aber das half wenig. Um nicht durchzudrehen, um am Leben zu bleiben, fing Ida an zu trinken. Den ersten Schnaps schenkte sie sich gleich morgens ein, nachdem die Kinder zur |154| Schule gegangen waren, die nächsten Gläschen wurden ihr von den Nachbarn aufgetischt, eins, dann zwei, später noch weitere für das dritte und vierte Bein, damit sie sich endlich entspannte, sich etwas freier bewegte, aber sie wurde stattdessen von Schwermut überwältigt, von der
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, der Melancholie, und sie schluchzte wie ein kleines Mädchen oder stritt sich bis aufs Blut oder zeterte herum. Und für all das musste sie sich später schämen.
    Doch wenn sie nüchtern blieb, warteten nur Leere und ein alles durchdringender Schmerz auf sie. Und vor diesem Schmerz hatte Ida eine solche Angst, dass sie nur seinetwegen Pillen schluckte und immer neue Flaschen anschleppte, damit sie ihn nicht spüren musste.
    Als den Nachbarn endlich klar wurde, dass es nicht gut stand um Ida, versuchten sie, mit ihr zu reden, aber sie wimmelte jeden ab, sie würde auch nicht in fremden Speisekammern herumschnüffeln, niemand sei ein Heiliger, weder sie noch die anderen, sagte sie. Aber erst nachdem sie jeden im Haus als Schlampe oder geilen Sack angepöbelt hatte, erst dann hörten sie auf, ihr einzuschenken. Vergeblich klingelte sie bei den Nachbarn, die Türen blieben verschlossen, da half kein Klopfen oder Trommeln mehr, die Nachbarn hockten still wie die Mäuschen auf der anderen Seite der Tür, sie zitterten vor Schmerz, dass sie nicht mehr helfen konnten, aber sie rührten sich nicht, und Ida musste auf die Straße, ihre Beine trugen sie zum Bahnhofskiosk und in die Kneipen von Petrohrad, dort lief sie um die Tische herum, setzte sich den Stammgästen auf den Schoß, und wer sie zurückwies, den verfluchte sie, ihn und seine verdammte Mutter, die ihn als Missgeburt zur Welt gebracht hatte. Da zahlten ihr die Männer lieber ein Bier und einen Schnaps, damit sie sich ja wieder aus dem Staub machte.
    |155| Und Ida wanderte von von einer Spelunke zur anderen, von einem Säufer zum nächsten. Für eine halb leere Flasche oder zwei Bier ließ sie sich nach draußen auf eine Bank mitnehmen, für zwanzig Kronen in eine Toreinfahrt, im Winter gar in einen verlausten Verschlag   – sie war ja schon lange nicht mehr in der Lage, die Bedingungen zu diktieren. Ihre Schönheit einer Bergmannsbraut, die Schönheit einer auf den Öllagunen erblühten schwarzen Blume, war längst verflogen. Ida hatte keine Wahl, sie musste mitgehen, denn sie brauchte den Alkohol, um hinter den Schleier des barmherzigen Vergessens zu gelangen und ihrem Schmerz zu entrinnen. Und um jenes eine Bier zu bekommen, das ihren Verstand in den Nebel des Vergessens sinken ließ, ging sie mit jedem mit, auch wenn sie spürte, dass man sie verachtete und nur deswegen mitnahm, weil sie so billig war.
    Aber das war ihr egal. Zu groß war ihre Angst, eines Tages nüchtern auf das Geschehene zurückblicken zu müssen. Sie hasste sich selbst, sie hasste ihren Schmerz, ihre Schwäche. Sie fürchtete sich sogar vor Spiegeln, davor, in ihr aufgedunsenes Gesicht zu blicken, einmal schlug sie sogar mit einem Nudelholz auf den Flurspiegel ein, sie trampelte auf den Scherben herum, zerstampfte sie zu winzigen Splittern   …
    Das, was für Andrejko ein Weilchen nach einem Zuhause ausgesehen hatte, bröckelte allmählich auseinander: Es ging ihm nicht nur um ein eigenes Bett oder einen Platz am Tisch, ein Zuhause waren für ihn auch freundliche Worte, das Gefühl von Sicherheit und Zusammengehörigkeit. Plötzlich musste er sich um die Kinder kümmern, Tee kochen und Brote schmieren, er tröstete und beruhigte den kleinen Tibor, den die Tante morgens mit Schlaftabletten vollstopfte, damit er sie bei ihren traurigen Wanderungen durch die Petrohrader Spelunken nicht störte, und der abends wach wurde.
    |156| Morgens versorgte er die Kinder vor der Schule, und abends verfrachtete er sie ins Bett, und manchmal schrie er sie an wie ein Erwachsener, der längst vergessen hat, dass auch er mal klein gewesen war   … Denn Ida kümmerte sich nicht

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