Mach mich nicht an
klingelte es an der Tür, ehe er ihrem Befehl nachkommen konnte.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schimpfte sie. »Anrufe, Besucher, Unterbrechungen am laufenden Band - das ist ja hier schlimmer als in der Grand Central Station!« Sie streifte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lugte um die Ecke in Richtung Eingangstür.
Vaughn drückte inzwischen auf einen Knopf an der Gegensprechanlage an der Wand. »Wer ist da?«
»Ich hätte wissen müssen, dass du zu faul sein würdest, um persönlich zur Tür zu kommen. Es ist kein Wunder, wenn du alt und schwabbelig wirst. Beweg deinen Hintern gefälligst zur Tür und lass mich rein«, bellte Yank Morgan in einem Tonfall, der jedem Feldmarschall beim Strafexerzieren zur Ehre gereicht hätte. Er war es eben gewohnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzten.
»Erwartest du seinen Besuch, Annabelle?«, fragte Vaughn, dem beim Klang dieser vertrauten Stimme unvermittelt das Herz in die Hose gerutscht war.
Sie schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. »Nein! Am besten gehe ich mich anziehen, während du ihn hereinlässt.«
»Gute Idee.« Vaughn legte keinen Wert darauf, dass Yank Morgan hier hereinspazierte und gleich realisierte, was gestern Nacht zwischen seinem Klienten und seiner Nichte vorgefallen war.
Nicki, Sophie und Annabelle waren schließlich Yanks ganzer Stolz. Er würde ihm ohne zu zögern das Fell über die Ohren ziehen, wenn er herausfand, dass Vaughn einfach so mit Annabelle geschlafen hatte, ohne die geringsten Ambitionen in Richtung Beziehung. Dann wären sie zweifellos wieder geschiedene Leute - und darauf konnte Vaughn nun wirklich verzichten. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Nicht zu fassen - er hatte doch tatsächlich den wichtigsten Grund, warum er die Finger von Annabelle lassen wollte, vergessen!
Resigniert trottete er zur Vordertür und bat seinen Gast herein. Yank schien verlotterter als sonst, und auch die Ringe unter den Augen wirkten dunkler als bei ihrer letzten Begegnung in New York.
Dazu kam, dass dieser Besuch nicht geplant war. Vaughn begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. »Yank! Was führt dich denn hierher?«, wollte er wissen und bedeutete seinem Agenten, einzutreten.
»Darf ich nicht einmal mehr meine Nichte besuchen, ohne gleich der spanischen Inquisition Rede und Antwort stehen zu müssen?«
Vaughn musterte den Alten prüfend. Täuschte es ihn, oder war er noch griesgrämiger als üblich? »Ich habe dir eine einzige Frage gestellt, nicht mehr und nicht weniger, und auch die scheint mir mehr als berechtigt, wenn man bedenkt, dass New York City nicht gerade um die Ecke liegt.«
Er legte Yank die Hand auf den Rücken und führte ihn in das bislang praktisch unbenutzte Wohnzimmer. »Also, was gibt‘s?«
Yank ließ sich auf das Sofa fallen und bedeutete dem Gastgeber, seinem Beispiel zu folgen. Dann beugte er sich zu Vaughn hinüber. »Wenn ich es dir sage, darfst du es Annie aber nicht verraten.«
Es gab also tatsächlich einen triftigen Grund für sein Auftauchen. Vaughn zuckte scheinbar unbeeindruckt die Schultern, aber sein Herz setzte einen Takt aus. Nun, er hatte sich gerade geschworen, künftig die Finger von Annabelle zu lassen, da sollte es ihm nicht weiter schwer fallen, Stillschweigen zu bewahren. »Habe ich jemals ein Geheimnis ausgeplaudert?«
Allerdings - erst gestern Abend , schoss ihm prompt durch den Kopf. Doch was auch immer Yank ihm anvertraute, er würde es für sich behalten. Er hatte gar keine andere Wahl. »Ich schwöre, ich werde ihr nichts sagen.«
Yank ließ die Fingerknöchel knacksen, dann verkündete er: »Der Arzt meint, meine Augen werden immer schlechter.«
Zusätzlich zum flauen Gefühl in der Magengrube hatte Vaughn plötzlich auch noch pochende Kopfschmerzen. »Was soll das heißen, schlechter?«
Der Alte hielt ihm unsanft die Augen zu. »Na, dass ich langsam blind werde, was denn sonst?«
Er ließ den Kopf hängen. Vaughn blinzelte. Es dauerte eine Sekunde, bis er wieder klar sehen konnte, doch es entging ihm nicht, dass sich die Furcht in Yanks Gesicht widerspiegelte. Dann hatte er seine Gefühle wieder unter Kontrolle und stellte das übliche Pokerface zur Schau.
Vaughn konnte sich lebhaft vorstellen, was der Alte gerade durchmachte. Er selbst hatte mit seiner Knieverletzung einen ähnlich schrecklichen Schicksalsschlag hinnehmen müssen und wusste, dass Mitleid oder Anteilnahme jetzt fehl am Platz waren. Er ahnte auch, wie viel Überwindung es den Alten gekostet
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