Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
verzögert.[ 39 ]
Der große Unbekannte war niemand anderes als Machiavelli selbst. Zwanzig Jahre später deckte er in seiner Instruktion für künftige Botschafter seine Karten auf: Eigene Schlussfolgerungen muss man einem anonymen Dritten aus gut informierten Kreisen in den Mund legen, sonst nehmen die eigenen Auftraggeber die Botschaft nicht ernst. Oder schlimmer noch: Sie werfen einem vor, unaufgefordert gewagte Urteile zu fällen.
Wie er in Wirklichkeit vorging, zeigte Machiavelli im selben Brief:
Und so schien es mir nach der Rede, die er hielt, und aufgrund seiner Wortwahl, die wiederzugeben zu weit führen würde, dass er diesmal begieriger war, mit der Republik zu einem Abschluss zu kommen, als je zuvor.[ 40 ]
Der Botschafter und der Herzog betonten beide gleichermaßen ihre Aufrichtigkeit und wussten doch genau, dass ihre Worte Schall und Rauch waren. Beide belauerten sich, um einen Blick hinter die kunstvoll errichtete Fassade des anderen zu werfen. Machiavellis Rezept der Wahrheitsfindung lautete: Zuerst erforsche man den Charakter des Herzogs, dann leite man daraus seine Wünsche und Ziele ab. Fügt man die politische Konstellation hinzu, so lässt sich die Zahl der Strategien, mit denen man zu rechnen hat, eingrenzen und nach Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung schließlich genau bestimmen. Fazit: Cesare Borgia mochte seine wahren Absichten noch so geschickt verhüllen, verraten würde er sie dennoch. Das war eine stolze Feststellung in eigener Sache: Ich, Niccolò Machiavelli, decke die geheimsten Pläne der Mächtigen auf.
Diesen Anspruch, die wahren Absichten des Herzogs freizulegen, hielt Machiavelli auch in der Folgezeit aufrecht. So kommentierte er die unerwartete Wendung, die Cesare Borgia Ende Oktober zu verkünden hatte, mit tiefer Skepsis:
Herr Paolo Orsini begab sich daraufhin nach Bologna und kehrte heute Abend zurück. Und man verbreitet in der Öffentlichkeit, dass die Einigung zwischen den Verbündeten und dem Herzog erreicht ist und dass man nur noch auf die Zustimmung des Kardinals Orsini wartet. Doch wenn ich die Hintergründe dieser angeblichen Übereinkunft überprüfe, so finde ich nichts, was mich von dessen Stichhaltigkeit überzeugt … Selbst wenn der Pakt geschlossen wird, und selbst wenn er so geschlossen wird, wie es beschrieben wurde, würde ich nichts darauf geben.[ 41 ]
Ausgerechnet Papst Alexander VI., der Meister aller Betrüger, und sein Sohn, der ihm in dieser Kunst kaum nachstand, sollten zu Friedensengeln mutiert sein und im Geist der Bergpredigt nicht nur das erlittene Unrecht verzeihen, sondern womöglich auch noch die andere Wange hinhalten? Machiavelli hielt dagegen, dass der Herzog unaufhörlich aufrüstete. Erst am Vortag habe er einen Agenten mit prall gefüllter Kriegskasse in die Lombardei geschickt, um Soldaten anzuwerben.
Zudem hörte ich die Vertrauten des Herzogs hinter vorgehaltener Hand schlecht über die Orsini sprechen und diese Verräter nennen. Und als ich gestern mit Herrn Agabito (= dem Sekretär Cesare Borgias) darüber sprach, lachte er und sagte mir, dieses Übereinkommen solle diese nur hinhalten.[ 42 ]
Zwei Tage zuvor hatte Machiavelli Cesare Borgia wie folgt charakterisiert:
Und wer die Eigenschaften beider Seiten in Augenschein nimmt, gelangt zu dem Ergebnis, dass dieser Herr mutig, vom Glück begünstigt und ungemein optimistisch ist … So aber ist nicht einzusehen, wie er die Beleidigung jemals verzeihen soll und wie die Beleidiger jemals ihre Angst loswerden sollen.[ 43 ]
Die Logik dieser Argumentation war stringent. Doch warum sah das niemand?
Ich kann fast nicht glauben, dass die anderen diese Täuschung nicht sehen – es ist kaum zu fassen.[ 44 ]
Machiavellis Urteil stand fest, auch wenn er damit allein auf weiter Flur stand: Die angebliche Versöhnung war in seinen Augen eine Falle, durch ein Bündnis mit den Ex-Rebellen könne Florenz nur verlieren. Ein politischer Akteur wie Cesare Borgia analysierte die politische Lage, die Psyche seiner Gegner, die Interessen seiner Verbündeten und zog dann aus der Summe dieser Faktoren den Schluss, was seiner Ansicht nach getan werden musste. Der politische Denker Machiavelli aber musste noch einen entscheidenden Schritt darüber hinaus tun: Er musste in das Innerste Cesares eindringen, sein Wesen erkennen und daraus ableiten, was ihm notwendig erscheinen würde. Denn es gab laut Machiavelli eingebildete und echte Notwendigkeiten. Die ersteren waren Hirngespinste und
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