Machos weinen nicht
mehr da – ich habe sie zerbrochen – Lena ist gestorben, und ihre Knochen vermodern, zerfallen. Oder sollte nicht besser Kirill für mich Brot kaufen? Warum sollte ich mein Geld ausgeben, wenn man auch seins nehmen konnte? Statt einer Decke lag auf dem Tisch eine Zeitung, mit Brandlöchern von Zigaretten. Ich las mehrmals die Schlagzeile, begriff aber nicht, wovon sie handelte. Die Buchstaben waren schwarz und fett wie Fliegen. Sie krochen ungehindert über die Zeitungsseite und legten sich manchmal zu den Schnauzen von Trickfilmschweinchen oder zu schrägen altägyptischen Augen zusammen. Einige von ihnen wollten von meinem Brot abbeißen. Warum bin ich hier? Diese Menschen sind böse zu mir, sie verhöhnen mich, lachen über mich. Ich bin hilflos ihrem idiotischen Grinsen ausgeliefert. Aber warum muss ich das ertragen? Kirill öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und ich dachte mehrere Tage hintereinander darüber nach, würden sie mich einholen, wenn ich aufstand und wegging? Wenn ich rannte, würde ich sicher entkommen – wenn ich schnell rannte – oder würden sie mich einholen? Wie lange bin ich hier? WIE LANGE BIN ICH HIER?
Ich stand auf, ging in die Diele, zog mir die Schuhe an – lange Jahre gingen für das Schuhe-Anziehen drauf – , öffnete die Tür und ging.
* * *
Danach verlor ich Kirill aus den Augen. Lena übrigens auch. Dafür traf ich Rudik wieder.
Ein Jahr war vergangen. Ende Februar dieses Jahres ging ich über den Suworow-Prospekt, nicht weit vom Platz des Aufstands. Im gelben Licht der Laternen fielen flauschige Schneeflocken. Unter meinen Füßen knirschte eine Schaumstoffkruste. Die Straße war weiß wie Mäuse im Delirium. Ich war eingeladen. Mit beiden Händen den Boden umfassend, trug ich eine große Tüte mit Flaschen.
»He! Verfluchter Teufel!«
Ich blickte mich um. Bemühte mich, die Tüte möglichst nicht zu bewegen. Er war immer noch derselbe. Nicht besonders groß, der Wurzel einer tropischen Pflanze ähnelnd. Schwarze Hände, durchsichtiger Blick.
»Ah! Ich hab dich nicht erkannt. Wie geht‘s?«
Ich versuchte, ihm die Hand zu drücken, ohne meine Tüte loszulassen. Rudik schüttelte den Kopf und brummte nur spöttisch.
»Was treibst du?«
»Fick dich! Und du säufst immer noch, wie ich sehe?«
Er sagte »säufst« so, wie ein erwachsener Mann zu einem Jugendlichen sagt: »Und du onanierst immer noch?«
»Siehst du Kirill noch?«
»Tu ich. Früher jedenfalls. Er schuldet mir sieben Dollar. Ich schlag ihn tot.«
»Für sieben Dollar?«
»Für das Heroin. Hätt ich mir besser selber reingezogen. Es ging ihm schlecht, ich hab ihm geholfen. Wo ist das Geld? Verfluchter Teufel! Versteckt sich auch noch! Hätt ich mir besser selber reingezogen!«
»Er hängt fest an der Nadel?«
Rudik schnaubte nur.
»Soll ich dir die sieben Dollar geben?«
»Willst du alle seine Schulden bezahlen? Er hat Schulden bei der halben Stadt. Und vor allen versteckt er sich.«
Wir schwiegen. In Wirklichkeit hatte ich gar keine sieben Dollar. Ich fasste meine Tüte fester. Die Flaschen klirrten. Auch sie hatte ich von fremdem Geld gekauft.
»Bist du auf dem Laufenden, ob er jetzt spielt?«
»Einen Scheißdreck macht er! Hast du gehört, dass der Graue abgekratzt ist?«
»Was für ein Grauer?«
»Der Bassist.«
»Im Ernst? Er ist tot?«
»Hast du das nicht gehört?«
»Wo sollte ich das hören?«
»Tja, er ist tot. Krepiert. Vor zwei Monaten. Verfluchter Teufel! Die letzte Zeit hat er bei so einer alten Schachtel gelebt. Tamara. Soll ziemlich reich gewesen sein. So um die sechzig, nicht schlecht, was? Direktorin von irgendwas, weiß der Geier. Eben reich. Der Graue hat ihr das ganze Gold aus dem Haus geschleppt. Um Heroin zu kaufen. Mir hat er auch mal was gegeben. Zum Schluss hat er sogar ihr Geschirr verkauft. Und als das Geld zu Ende war, ist er wieder zu seinen Eltern gezogen. Die haben sich gefreut. Haben ihm eine Kiste Wein gekauft. Damit er zu Hause von dem Zeug runterkam und nicht weglief. Drei Tage hat er Alkohol gesoffen, um von dem Stoff runterzukommen. Dann hat er beschlossen, ein bisschen ›Minutka‹ zu schnüffeln. Hat sich in der Toilette eingeschlossen – wahrscheinlich ist ihm total schlecht geworden ...«
»Was ist das, ›Minutka‹?«
»Weiß ich nicht mehr. Ein Fensterputzmittel oder ein Lackverdünner. Jedenfalls Chemie. Man schnüffelt es wie Klebstoff, verstehst du? Er hat es in eine Tüte gegossen und an den Mund gehalten. Na – und tschüs! Als seine
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