Macht: Thriller (German Edition)
aus seiner Hosentasche. Er versuchte zu schreiben. Aber der Stift flutschte immer wieder aus seinen blutnassen Fingern, oder das Blatt rutschte davon. Nach einem weiteren missglückten Versuch, eine Nachricht zu hinterlassen, ließ er sich wieder nach hinten sinken. Einmal war er bei Bewusstsein, einmal verlor er sich in einer namenlosen Schwärze. Er fuhr hoch, als er hörte, dass die Tür geöffnet wurde.
In der Tür stand ein schlankes, dreizehnjähriges Mädchen mit langen blonden Haaren. Sie trug ein fast bodenlanges weißes Nachthemd und schaute mit regungslosem Gesicht auf den Sterbenden zu ihren Füßen.
»Du siehst aus wie ein Engel, meine kleine Lilly«, flüsterte Gabriel unter Schmerzen und streckte die Hand nach ihr aus.
Die Kleine wandte sich ab und wollte gehen.
»Nein, mein Schatz, lass Mama schlafen. Sie ist sehr müde, weißt du. Bleib lieber hier bei mir.« Fuchs sah sich besorgt um. Zum Glück war es noch dunkel, Lilly hatte kein Licht angemacht. »Nein, mein kleiner Engel. Lampen brauchen wir zwei auch nicht. Wir sehen auch so genug. Und im Finstern ist es so schön romantisch. Setz dich!« Er tappte mit der flachen Hand neben sich auf den Boden. »Im Dunkeln ist gut munkeln, sagt man.«
Das Mädchen war irritiert, schaute erst auf den Vater, dann auf die Wohnungstür.
»Nein, lass die Mama schlafen. Komm her zu mir!«, wiederholte Gabriel seine Bitte.
Lilly setzte sich auf den Fußboden, stand aber gleich wieder auf. Ihr Kleid und ihre Hand waren nass.
»Ich war ein wenig ungeschickt, meine Kleine. Hab was ausgeschüttet«, stöhnte Gabriel. »Tomatensaft! Hier bei mir ist es ganz trocken.« Er zeigte mit dem Finger neben sich.
Die Kleine setze sich neben Gabriel und ließ ihre blauen Pupillen aufmerksam über ihn wandern.
Fuchs zwang sich zu einem Lächeln, aber es gefror ihm sofort. So ein Blödsinn, sie zu belügen, fuhr es ihm durch den Kopf. Sie weiß verdammt genau, was mit mir los ist, und sie wird dieses Bild nie mehr vergessen. Sie hat es sich deutlich eingeprägt. »Du musst dem Papa jetzt helfen, mein Schatz«, begann er ernst. »Wir müssen jetzt zusammen eine Nachricht schreiben, an Papas Freunde. Da liegen Papier und Kugelschreiber, die hältst du für mich fest, während ich schreibe. Und davor gibst du mir das Buch, das da oben auf meinem Schreibtisch liegt. Und wenn ich fertig bin, stellst du es wieder zurück an seinen Platz im Regal. Du weißt ja, wo es hingehört. Gut?«
Lilly nickte und holte das Buch. Dann setzte sie sich wieder zu Gabriel, und sie begannen zu schreiben.
Gabriel wusste nicht, wie lange sie für die paar Zeilen gebraucht hatten. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Die letzte Zeit zusammen mit seiner Tochter. Und was tat er damit? Er notierte Kauderwelsch! Er streichelte dem Mädchen über den Kopf, das neben ihm eingeschlafen war. Lilly lag zusammengerollt, das Gesicht auf ihren abgewinkelten Armen, auf dem Teppich. Sie war in seiner Sterbestunde bei ihm und sie war das Beste, was ihm in seinem Leben gelungen war. Das wurde ihm jetzt klar.
Fuchs spürte seine Beine nicht mehr. Er fuhr sich unter das Hemd und schloss die Augen. Sein Bauch sowie seine Hüften waren eiskalt. Die Tränen stiegen in ihm auf, und er flüsterte: »Jetzt werde ich ja gleich sehen, ob ich mein ganzes Leben lang Blödsinn erzählt habe.« Er musste lachen, und die Schmerzen wurden unerträglich.
»In deine Hände, o Herr, befehle ich meinen Geist«, murmelte er schließlich und starrte nur noch benommen vor sich hin.
Draußen vor den beiden Fenstern wurde der Verkehr wieder lauter. Der Himmel verfärbte sich grau. Die Sonne ging auf, und die Strahlen eines neuen Morgens fielen in das Büro.
Um Gabriel Fuchs wurde es ganz still.
Im Büro des Pfarrhauses ging das Licht an. Ein spitzer Schrei zerriss den morgendlichen Frieden.
Der Mann auf dem Parkplatz trat seine Zigarette aus. »Meine ehrlich empfundene Hochachtung, Herr Pfarrer. Sie sind wirklich ein echter Kerl. Wie abgemacht ist kein Mucks über Ihre Lippen gekommen«, sagte er leise, zog sich den Hut tiefer ins Gesicht, stieg in den VW Caravelle, gab seinen drei Mitarbeitern ein Zeichen, und sie fuhren langsam davon.
3
Frankfurt am Main, 4. Oktober 2012
J osephine Mahler war starr vor Entsetzen. Der Telefonhörer drohte, aus ihren Fingern zu fallen. Wenn das ein Traum war, dann würde sie jetzt bitte gerne aufwachen.
Aber nichts dergleichen passierte. Anstatt in ihrem Bett die Augen aufzuschlagen, saß sie
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