Macht: Thriller (German Edition)
immer noch an ihrem Schreibtisch in dem weiß ausgemalten Büro im Poelzig-Bau der Johann Wolfgang Goethe-Universität und hörte das Tuten der toten Verbindung an ihrem Ohr. Ihr Magen verkrampfte sich, und ein dicker Knoten in ihrem Hals schnürte ihr den Atem ab. Sie brauchte unbedingt frische Luft. Sie legte den Hörer auf, stand auf und ging.
Josephines Absätze klapperten über den hohen, weitläufigen Gang des ehemaligen IG-Farben-Hauses. Sie streckte mit versteinerter Miene ihren Rücken durch und ging immer schneller auf die geschwungene Freitreppe zum Foyer zu.
Touristen standen bei den Schautafeln vor dem Institut für Ethnologie und betrachteten mit betroffenen Gesichtern die abgebildeten Fotos und Dokumente aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Jener Zeit, in der diese Universitätsbüros die Labore gewesen waren, aus denen das Zyklon B-Gas in die Konzentrationslager der Nazis geliefert worden war. Verständnislos blickten die Leute der Frau hinterher, die hier arbeitete und ohne jede Gefühlsregung an der Ausstellung vorbeilief.
Aber in diesem Moment trug das Grauen für Josephine Mahler einen anderen Namen. Die anonyme Bestialität und Grausamkeit hatte schlagartig ein vertrautes Gesicht bekommen. Sie manifestierte sich jetzt und heute in ihrem Kopf. Als blutüberströmte Leiche ihres besten Freundes Gabriel Fuchs.
Josephine eilte die Stufen nach unten und durchquerte, ohne sich nach rechts oder links umzublicken, die mit rotem Marmor verkleidete Aula.
Die Stimmen von Jugendlichen aus aller Herren Ländern brandeten ihr entgegen, als sie die hohen Glastüren zum runden Mittelsaal des Gebäudes aufzog. An den Tischen des Mensa-Cafés in der Eisenhower-Rotunde steckten Studenten ihre Köpfe über Skripten und Laptops zusammen. Oder die jungen Leute aßen und tranken eine Kleinigkeit zwischen den Lehrveranstaltungen. Die Herbstsonne schien durch die großzügige, nach allen Seiten offene Fensterfront herein. Und gelegentlich übertönte glockenhelles Lachen das gleichförmige Auf und Ab der Stimmen, das in Mahlers Ohren wie das Schwärmen eines Bienenvolkes klang. In dem wuchtigen Büro- und Repräsentationsbau, der wie der braune Bruchteil eines monströsen Zahnrades zwischen Bäumen und Wiesen auf dem Campus Westend lag, pulsierte das Leben. Die Jugend exorzierte den Schatten des Todes aus den Gängen und Sälen.
Anders bei Josephine Mahler, sie strebte ins Freie, um dem Albdruck der vielen Menschen zu entkommen. Die Kühle vor der Tür griff sie hart an, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Trotzdem blieb sie kurz an der Schwelle stehen, um tief durchzuatmen. Und der Knoten in ihrem Hals begann, sich etwas zu lösen. Dann drängte sie es wieder weiter. Einfach nur weg.
Nach wenigen Schritten stand sie am Rand des großen Wasserbeckens zwischen dem Poelzig-Bau und dem höher gelegenen Kasino. Das graue Rechteck zwischen den Weiden war bereits für den Winter trockengelegt, und nur noch ein paar Enten watschelten zwischen den letzten Pfützen hin und her. Das gelbbraune Laub, der leere Brunnen, die suchenden Vögel, alles wirkte plötzlich so trostlos und tot. Ein einziger Telefonanruf hatte Josephines Welt zum Einsturz gebracht, und sie konnte nicht mehr davonlaufen. Sie setzte sich auf den Beckenrand, legte ihr Gesicht zwischen die Hände und weinte.
»Das nächste Mal nimm bitte Mantel und Handy mit«, hörte Josephine nach geraumer Zeit eine bekannte Stimme neben sich. Vor ihr stand ihr Freund Moritz und hielt ihr den Mantel hin.
Josephine wischte sich die Tränen ab, schlüpfte zitternd in die Ärmel und wickelte den dicken Wollstoff fest um ihre Hüften. Dann schob sie einige ihrer hennaroten Locken hinter die Ohren, überprüfte das Display ihres Mobiltelefons und las von seinen sechs entgangenen Anrufen. »Tut mir leid«, sagte sie, ohne den Mann anzusehen, schnäuzte sich geräuschvoll und ließ das Telefon in ihrer Manteltasche verschwinden.
»Eure studentischen Hilfskräfte im Institut haben mir gesagt, dass du einen Anruf entgegen genommen hast und dann Hals über Kopf die Treppe nach draußen hinuntergerannt bist«, erklärte Moritz und tippte mit der Schuhspitze. »Und bei den Temperaturen, habe ich mir gedacht, kannst du nur in Pullover und Rock nicht weit sein.« Er richtete sich den Krawattenknopf gerade und schaute sie auffordernd an. »Das nur, falls du dich fragst, was ich hier mache.«
»Genau«, erwiderte Josephine mit leeren
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