Macht: Thriller (German Edition)
Beileidsbekundungen der Leute entgegen. Die meisten der Männer und Frauen, die heute ihre Hand festhielten und mit gedämpfter Stimme auf sie einredeten, hatte Sophie niemals zuvor gesehen oder nur flüchtig kennengelernt. Aber die Höflichkeit wollte es so. Und sie war es ihrem Gabriel schuldig, heute statt seiner die Stellung zu halten.
Josephine Mahler spannte ihren Regenschirm auf, drehte sich noch einmal nach der Witwe um und entfernte sich langsam. Sie hatte Sophie auf die Wangen geküsst, sie in den Arm genommen und war wieder gegangen. Josephine hatte einfach keine Worte gefunden, die Sophie hätten sagen können, was sie gerade empfand. Aber in dem Moment, als sich ihre Blicke getroffen hatten, hatte sie ganz deutlich gespürt, dass es gar nicht notwendig gewesen war zu reden. Die beiden Frauen hatten sich auch so verstanden.
Eine Gruppe älterer Herrschaften überholte Mahler auf dem asphaltierten Hauptweg zur Kirche. Josephine bemerkte die Entrüstung in ihren Gesichtern und neugierig geworden schnappte sie ein paar ihrer Gesprächsfetzen auf.
»So traurig. Er war so ein freundlicher Mann. Habt ihr das in der Zeitung gelesen? Selbstmord? Unser Herr Pfarrer? Also das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen …«, murmelte die alte Dame und schüttelte den Kopf.
»Naja«, erwiderte ihr Ehemann im hellbraunen Staubmantel. »Man kann eben in niemanden hineinschauen.«
»Eine Tragödie! Die arme Frau Fuchs. Selbstmord! Ich wundere mich, dass der Superintendent unter diesen Umständen den Gottesdienst –«, schaltete sich eine andere ein, aber verstummte jäh, als sie den missbilligenden Ausdruck in den Gesichtern ihrer Gesprächspartner bemerkte. Der ältere Herr an ihrer Seite verdrehte gequält die Augen.
»Die Sache mit seiner Tochter hat ihn halt sehr mitgenommen«, seufzte die erste.
»Wieso?«, brummte der Alte im Staubmantel und winkte missmutig ab. »Die Kleine ist doch ein liebes Mädchen.«
»Das schon. Aber sie ist halt ein wenig … speziell«, sagte seine Frau und hakte sich bei ihm unter.
»Ganz genau«, bemühte sich die andere wieder um Anschluss. »Und in letzter Zeit, da ist mir der Herr Pfarrer ein wenig – wie soll ich sagen – bedrückt vorgekommen. Nicht mehr so lustig und lebensfroh wie sonst. Mir kam es erst neulich nach dem Gottesdienst so vor, als trüge er eine schwere Last auf seinen Schultern.« Sie setzte eine pathetische Pause und beugte sich näher zu den anderen. »Und ihr wisst ja, die Frau Pfarrer wollte schon die längste Zeit von hier wegziehen. Sie wollte in eine ruhigere, in eine bessere Gegend. Das hat dem armen Mann sicher das Herz zerrissen. Er hat sich doch so wohl gefühlt hier bei uns.«
Natürlich, ärgerte sich Josephine und hörte wieder weg. Immer sind die Frauen schuld. Und nachdem das Unvorstellbare schließlich passiert ist, haben wir es schon immer gewusst. Aber egal, was die Leute redeten, oder was die Zeitungen in die Welt setzten, Mahler glaubte Sophie und war sich ganz sicher, Gabriel Fuchs hätte niemals im Leben Selbstmord begangen. Und schon gar nicht auf diese Art und Weise. Gabriel war da in irgendetwas hineingeraten, und es hatte mit diesem Friedhof zu tun.
Josephine bewegte ihre schmerzenden Zehen. Sie spürte, wie die eisige Feuchtigkeit langsam durch die Ledersohlen ihrer Pumps sickerte und weiter nach oben unter den Trenchcoat und ihr viel zu dünnes schwarzes Kostüm kroch. Seit Jahren empfand sie ganz plötzlich wieder das Verlangen nach einer Zigarette. Sie blieb stehen und schaute sich nach einem bekannten Gesicht um. Dabei entdeckte sie ihn.
Abseits der Trauergemeinde stand ein Mann. Er trug ein schwarzes, an den Ellbogen abgewetztes Cord-Sakko über einem weißen Hemd, und seine graumelierten Haare hingen ihm völlig durchnässt ins bärtige Gesicht. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, schnippte ein Zippo an und machte einen tiefen Zug.
War es möglich?, überlegte Josephine. Sie hatte Gernot Szombathy seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und als sie ihn das letzte Mal getroffen hatte, hatte er noch keinen Bart. Naja, zumindest noch keinen richtigen. Aber genauso ein Feuerzeug besaß Szombathy schon im Gymnasium. Sie wollte das jetzt genau wissen und marschierte auf den Mann zu. Und war es nicht Gernot, sprang bei dem Versuch wenigstens eine Zigarette für sie heraus.
Gernot Szombathy genoss den ersten Lungenzug seit fast zwei Stunden. Massenaufläufe wie dieser waren nicht sein Ding. Er
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