Macht und Rebel
weiß, das trügt, also trotze ich ihr – dieser Vorstellung – und gehe in die Küche. Ich hab die dünne Scheibe Brot, die ich als Einziges finde, noch nicht gegessen, da wird mir wegen des Gedankens an die Gurke übel. Es darf nicht wahr sein: Ich habe eine Fantomgurke im Hausmüll. Gratuliere.
Als ich den Fahrstuhl betrete, höre ich den Schlüssel in der Tür von KING OF ANALINGUS rasseln. Hysterisch drücke ich immer wieder den E-Knopf, aber KING OF ANALINGUS ist blitzschnell und schafft es noch. Mir bleibt auch nichts erspart. Hier die Theorie des Tages:
»Das Paradox, mein gutester Rebel-Boy, das Paradox ist doch, dass man immer in derselben Haltung endet, egal, an welchem Ende der sozialen Skala man sich befindet. Verstehst du? Begreifst du? Man LIEGT, nicht wahr. Ob Großstadtarschloch oder Hungeropfer in Äthiopien, ob Junkie oder Opiumraucher, du LIEGST. Ob dir eine Südseeinsel gehört oder ob du ein römischer Kaiser bist … du LIEGST, ganz egal. Ob mit Cocktailglas, ob mit Weintrauben überm Mund, wie auch immer … nicht wahr?«
Die Hölle ist damit noch nicht überstanden: Nachdem ich KING OF ANALINGUS abgeschüttelt habe, muss ich die U-Bahn nehmen. Ich hasse die U-Bahn. Fotti hat gesagt, ich kann sie an Ort und Stelle treffen, dann brauche ich die Kids nicht mit hinzulotsen. Leute irgendwo hinzulotsen ist nicht meine starke Seite, also war mir das nur recht. Wenn auch um den Preis, dass ich jetzt mit der U-Bahn fahren muss.
Der Zug rüttelt und schüttelt, es ist schwarz im Tunnel. Meine Knie geraten an die Knie des absolut unerträglichen Typen, der mir gegenüber sitzt und so tut, als ob nichts wäre, dabei sehe ich genau, dass er mich jedes Mal anschaut, wenn ich so tue, als schaute ich aus dem Fenster, und dabei eigentlich ihn anschaue. Bei jedem Halt hoffe ich, dass er aussteigt, aber nein. Seine Knie irritieren mich tödlich, ich rücke beiseite, stelle dann aber fest, dass es auch nicht besser ist, reißverschlussartig meine Beine mit seinen verschränken zu müssen. Ablenkungshalber dichte ich folgendes kleines Gedicht:
Mein Verhalten ist politisch absolut korrekt
Ich verbrauche wenig
Ich kaufe nie Klamotten
Ich esse wenig Fleisch
Ich habe eine kleine Wohnung und folglich einen niedrigen Stromverbrauch
Ich drehe beim Zähneputzen das Wasser ab
Ich schaue zu Frauen auf (sie sind die Einzigen, die Macht über mich besitzen)
Ich war nicht beim Militär
Ich nehme kein Rauschgift
Ist es da eigentlich ein Problem, dass ich still und leise, ganz für mich, ein Judenhasser bin?
Es ist doch wirklich ein Paradox, dass Missgeburten und Versehrte so gelobt werden, weil sie beispielsweise gehen. Und dass sie auf dieser Basis akzeptiert werden. Kann nicht reden, aber geht ja soooo geschickt mit Messer und Gabel um. Während ich, der ich ein so gut wie makelloses Verhalten an den Tag lege, NICHT Juden hassen darf. Nicht mal ein kleines bisschen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Am Stadtrand kommt die U-Bahn aus dem Tunnel. Ich sehe ein paar Bäume, doch ob jetzt gerade Sommer, Winter oder Frühling ist, ob Tag, Nacht oder Nebel herrscht, spielt für mich wirklich keine Rolle. Fottis Angaben folgend, gehe ich eine Schotterstraße gegen die Fahrtrichtung. Nach fünf Minuten ist um mich herum mehr oder weniger alles Wald und Grün. Fast blauer Himmel und mildere Luft.
Hinter einer Baumgruppe sehe ich auf einer Wiese eine Herde Menschen. Scheiße, sind die groß. Problemkinder kommen wahrscheinlich besonders früh in die Pubertät, was weiß ich. Die Jungs sind so groß wie Erwachsene. Irgendwie hatte ich gedacht, sie wären kleiner. Fotti steht am Rand des Grüppchens und winkt, als sie mich sieht. Während ich diagonal auf sie zuwandere, fantasiere ich circa zehn Mal davon, umzudrehen und zur U-Bahn zurückzugehen. Natürlich verstummt die ganze Gang und dreht sich zu mir um, als ich nahe genug dran bin.
»Das ist Rebel. Englisch ausgesprochen. Er isst mit uns«, sagt sie zu der Gruppe.
Kein Mensch sagt ein Wort. Nach zwei Sekunden drehen sie sich weg und reden weiter. Fotti nimmt mich zur Seite.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du im Ernst auftauchst.«
»Ich auch nicht«, sage ich. »Ich hab auch nichts zu essen dabei.«
»Ich hab Würstchen«, sagt Fotti und deutet auf ihren Rucksack. »Alles okay so weit?«
»Soso«, sage ich.
Fotti wendet sich der Gruppe zu und beordert die Kids, die Einweggrills anzuzünden. »Aber nichts sonst, verstanden /« Die Jungs legen los,
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