macht weiter
sich.
»Wo warst du denn den ganzen Tag? Ich habe dich im Garten gesucht und beim Essen. Es tut mir schrecklich leid, Hafez, daß ich euch alle gestört habe gestern abend. Ich wollte deine Großmutter besuchen.«
Er drehte sich um und sah sie aus riesigen Augen an. »Aber, Madame, jetzt weiß ich, daß Sie wirklich meine Freundin sind. Ich finde, das war sehr gütig von Ihnen.«
»Aber du hast den ganzen Tag auf dem Zimmer verbracht?« »Ach, das macht jetzt nichts mehr. Passen Sie auf, Madame, gleich fängt es an. Ich werde übersetzen.«
Das tat er auch. Er las ihr sogar den Vorspann vor, und als der Film begann, übersetzte er gewissenhaft jedes Wort. Der kleine Zuschauerkreis, darunter Ibrahim Sabry und die Palisburys, war darüber nicht sehr entzückt. Mrs. Pollifax ermahnte ihn, leiser zu sprechen. »Ah oui, Madame«, sagte er, und hielt sich auch wirklich ein paar Minuten daran. Um den Kurfreunden diesen Abend nicht restlos zu zerstören, beschloß Mrs. Pollifax zu gehen. Außerdem war es beinahe Zeit für ihr Blinksignal.
»Du kannst mir die Geschichte morgen vollends erzählen. Ich gehe jetzt«, flüsterte sie ihm zu.
Seine Enttäuschung war im Moment zwar gewaltig, doch rasch verflogen. Als Mrs. Pollifax sich umsah, saß er bereits wieder da, als wollte er die Handlung des Films ganz und gar verschlingen. Es war ein Vergnügen, ihn einmal als unbefangenes Kind zu sehen. Court und Robin saßen in der Bibliothek. Sie hatten die Köpfe dicht zusammengesteckt und plauderten. Mrs. Pollifax winkte ihnen zu und ging nach oben.
Punkt zehn gab sie vom Balkon aus ihr Blinksignal, zum Zeichen, daß sie auch ihren zweiten Tag in Montbrison überlebt hatte. Wieder antworteten die Scheinwerfer, und langsam verschwand ihr unbekannter Freund talwärts.
Fünf Minuten vor Mitternacht und nach einer halben Stunde Yogatraining nahm Mrs. Pollifax Geigerzähler und Taschenlampe an sich und schlich nach unten. Auch heute war die Portiersloge unbesetzt. Sie ging ins Untergeschoß. Marcel war noch nicht da. Bis Mitternacht war noch etwas Zeit.
Das Warten auf dem hell erleuchteten Korridor wurde ihr ungemütlich. Ihr gegenüber lag die Tür zum Garten, deren runde Glasscheibe sie anstarrte wie ein Auge. Sie fühlte sich beobachtet. Hier unten herrschte tiefe Stille. Nur in der »Unterwassermassage« plätscherte das Wasser.
Sie sah auf die Uhr. Es war genau Mitternacht. In der ›Unterwassermassage‹ war etwas zu Boden gefallen. Mrs. Pollifax rührte sich nicht. Kein Gegenstand fällt von selbst zu Boden. Sie schob ihre Schmuckkassette in einen dunklen Winkel unter der Treppe und ging zur Tür des Massageraumes. Einen Moment wartete sie und lauschte. Dann öffnete sie die Tür. Der Raum war finster. Sie knipste die Taschenlampe an. Die Tür zur ›Hydrotherapie‹ wurde sanft zugezogen. Schon öffnete Mrs. Pollifax den Mund, um sich bemerkbar zu machen. Sie verhielt sich jedoch still und tat einen Schritt vorwärts. Dabei streifte der Schein ihrer Taschenlampe ein Bild des Schreckens. Sie war kaum noch fähig, ihren Schrei zu ersticken.
In der hellgrünen Badewanne lag Marcel mit durchschnittener Kehle. Seine blicklosen Augen starrten zur Decke. Die Wanne war mit Blut bespritzt. Blut lief über sein weißes Jackett.
»Mein Gott«, flüsterte sie und suchte taumelnd Halt an der Wand. Sie knipste ihre Lampe aus, tastete nach einem Stuhl, setzte sich, um erst einmal tief Luft zu holen. Er konnte noch nicht lange tot sein. Vielleicht war er nur wenige Sekunden bevor sie die Treppe herabgekommen war ermordet worden. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, um Hilfe zu rufen.
Wasser plätscherte in die Wanne. In Mrs. Pollifax gewann der Ordnungssinn Oberhand. Sie knipste ihre Lampe wieder an, schlich zu Marcel hin, und mit zitternder Hand befühlte sie Herz und Puls des Toten; kein Lebenszeichen mehr. Sie wusch sich das Blut von der Hand. Dann drehte sie den Wasserhahn zu.
Im gleichen Augenblick sah sie ein, daß sie einen schweren Fehler begangen hatte.
Mrs. Pollifax versuchte nachzudenken. Marcel war tot... ermordet. Wer hatte bei ihrem Kommen diesen Raum verlassen?
Sie löschte die Lampe und richtete sich auf. Tiefe Dunkelheit umfing sie. Es herrschte eine unheimliche, drohende Stille. Ganz in der Nähe, vielleicht unmittelbar nebenan, mußte jemand sein, der diese Stille mit ihr teilte. Auch er lauschte jetzt wahrscheinlich... wußte, daß er nicht allein hier unten war.
Marcels Mörder.
Unschlüssig stand
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