Machtlos
verspürte Scham. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich wollte dir nicht wehtun.«
Das Mädchen wich bei Valeries Worten zurück. Langsam erst, doch als der Abstand zwischen ihr und Valerie groß genug war, wandte sie sich um und rannte aus dem Zimmer.
Langsam registrierte Valerie ihre Umgebung. Sie lag auf einem Bett in einem Zimmer, durch dessen einziges Fenster die Sonne schien und einen Lichtfleck an die Wand warf, genau dort, wo ein vergilbtes Marienporträt auf einer ebenso vergilbten gemusterten Tapete hing. Neben dem Bett stand eine alte Emailleschüssel, gefüllt mit Wasser, über ihrem Rand hing das Tuch, das das Kind dort hatte fallen lassen, bevor es hinausgelaufen war, und mit dem es Augenblicke zuvor noch ihre Stirn gekühlt hatte. Valeries Finger strichen über die rauhen Wolldecken, unter denen sie lag, und sie erinnerte sich plötzlich vage an eine alte Frau im Umriss einer Tür. Eine Hand, die sich auf ihre Stirn gelegt hatte. Die Bilder waren verschwommen und zusammenhanglos wie nach einem Traum. Nicht mehr als Fragmente.
Valerie zuckte zusammen, als eine Gestalt in der geöffneten Tür erschien. Ihr Atem ging plötzlich schneller und beruhigte sich erst, als sie sah, dass es eine Frau war, der das kleine Mädchen zögerlich folgte. Die Frau war klein und zierlich, und in ihrem Gesicht spiegelten sich die Züge des Mädchens. »Es tut mir leid, dass Livia dich geweckt hat«, sagte sie in einem von schwerem Akzent gefärbten Deutsch.
Valerie versuchte, sich aufzurichten.
Die Frau war mit einem Schritt bei ihr und drückte sie zurück in das Kissen. »Du musst liegen bleiben.« Sie nahm den Lappen aus der Schüssel, drückte das Wasser heraus und legte ihn Valerie auf die Stirn. »Livia wollte Krankenschwester spielen bei dir. Sie wollte das Fieber wegmachen.«
Valerie spürte, wie sich ein zögerndes Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete. »Ich habe auch zwei Töchter«, sagte sie leise. Dann wurde ihr bewusst, was die Frau gesagt hatte. Das Fieber wegmachen. »Was ist passiert? Wie … wie lange bin ich schon hier?«
Die Frau nahm das Tuch von Valeries Stirn und tauchte es wieder in die Schüssel. »Zwei Tage«, sagte sie. »Ich habe zwei Tage um dich gekämpft. Du hast geblutet, als meine Tante dich gefunden hat.«
Valeries Hand fuhr zu ihrem Unterleib bei diesen Worten.
»Hast du noch Schmerzen?«, fragte die Frau, der diese Bewegung nicht entging.
Valerie schüttelte den Kopf.
»Ich habe dir Antibiotika gegeben und Cortison«, fuhr die Frau fort. »Du hast eine Entzündung der Gebärmutter.« Mehr sagte sie nicht, aber ihr Blick zeigte Valerie, dass sie wusste, ahnte, was passiert war. Valerie schlug die Augen nieder, und die Frau legte schweigend das Tuch auf ihre Stirn.
»Bist du Ärztin?«, fragte Valerie, ohne aufzusehen.
»Ich bin Krankenschwester. Ich habe im Kosovo-Krieg gearbeitet für Medica Kosovo. Ich heiße Vesna.«
Medica Kosovo. Valerie erinnerte sich, einmal etwas über die medizinische Organisation gelesen zu haben, die sich um im Krieg vergewaltigte Frauen und ihre Kinder kümmerte. Vesna hatte die Symptome gesehen und auf die Ursache geschlossen. Valerie presste die Lippen zusammen und spürte, wie sich eine Hand behutsam auf die ihre legte. Sie schloss die Augen, damit Vesna ihre Tränen nicht sah.
»Wenn es dir besser geht, müssen wir dich fortbringen«, sagte Vesna.
Valeries Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. »Sie waren hier und haben nach mir gefragt?«
»Einer war hier. Ein Großer, Hagerer im Anzug mit kurz rasiertem Haar.«
Burroughs.
Wenn Burroughs dich findet, bist du tot.
»
Er wird wiederkommen«, sagte Valerie leise, während die Angst in dem Raum Gestalt annahm. Sie hockte sich neben das kleine Mädchen und sah sie aus hässlichen kleinen Augen an. Ich bin hier, sagten diese Augen. Ich habe dich wiedergefunden. Valeries Hände begannen zu zittern. Vesna sagte nichts, drückte nur ihre Finger.
»Er wird wiederkommen«, wiederholte Valerie tonlos. »Schon bald.«
»Vorher bringen wir dich fort«, sagte Vesna. Sie legte das Tuch zurück auf Valeries Stirn. Diesmal blieb ihre Hand daneben liegen, strich sanft über die feuchte Haut und dann über Valeries Wange.
»Sie haben ein Lager in den Bergen«, flüsterte Valerie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Sie halten dort Menschen gefangen und foltern sie.«
»Ich weiß«, sagte Vesna.
Valerie verbrachte den restlichen Tag allein. Vesna kam nur, um ihr etwas zu
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