Machtlos
geheimen Sektionen der Bibliothek der Goldenen mitgenommen und gemeinsam mit ihr dort uralte Schriften studiert.
In den letzten fünf Wochen hatte Lexia viel Zeit in der Zitadelle der Goldenen verbracht, hatte aber immer peinlich genau darauf geachtet, dass sie keine Trauzeugentermine verpasste. Nach und nach zerstreute sich Lexias Hilflosigkeit und sie fand ihr Vertrauen in die Goldenen wieder, auch wenn sich keiner der vielen Widersprüche aufgelöst hatte.
Diese Tatsache hinterließ bei Victoria einen unangenehmen Beigeschmack. Lexia war von ihrer Mentorin regelrecht eingelullt worden.
Und noch eine Sache war Victoria aufgefallen: Bei dem Initiationsritual war eine neue Fähigkeit bei der Adeptin erweckt worden. Die Goldenen nannten sie «das zweite Gesicht» und Lexia hatte bei dem Ritual den Auftrag bekommen, diese Fähigkeit zu trainieren. Abrexar hatte noch nie vom zweiten Gesicht gehört und war fasziniert. Er drängte Victoria, mehr darüber herauszufinden, doch die weigerte sich standhaft, in Lexias Geist danach zu stöbern, denn das ging ihr zu weit.
Doch in den letzten Tagen war ihr etwas aufgefallen.
Heute war Freitag, der 26. November. Seit fünf Wochen hatte sie jeden Freitag um eins eine Verabredung mit Abrexar im neugestalteten weißen Salon.
Sie war mit Jaromir übereingekommen, dass sie seinem Mentor von ihrer Entdeckung erzählen musste. Doch sie fühlte sich ganz mies bei dem Gedanken, denn dann würde sie Lexias intimen Gedanken nach außen tragen. Nicht einmal Alberts selbstgemachtes Schokoladeneis mit Nougatsplittern und Pistaziencreme konnte sie heute aufmuntern. Missmutig rührte sie mit dem Teelöffel in ihrer Dessertschale herum, bis alles eine Pampe war.
Abrexar hatte schweigend beobachtet, wie sie ihr Eis malträtierte und fragte schließlich sanft: „Was bedrückt dich Victoria? Komm schon, rück raus mit der Sprache.“
Victoria seufzte und stellte ihren Nachtisch weg. Dann sah sie Abrexar in die Augen und meinte fast schon trotzig: „Ich habe es herausgefunden.“
Abrexar sah sie aufmerksam an, doch Victoria verfiel wieder in Schweigen.
Der alte Schwarze wartete geduldig, bis sie soweit war. Die Jahrhunderte, in denen er die Menschen studieren durfte, hatten ihm wieder und wieder gezeigt, wie viel man in einer solchen Situation zerstören konnte, wenn man die Menschen zu sehr drängte.
„Ha“, bemerkte Victoria trocken, „immer ganz der Stratege was, alter Mann?“
Abrexar sah sie freundlich an: „Ich bin, was ich bin… Und wenn du Zeit brauchst… wir können gern nächste Woche darüber reden…“
„Nein, das können wir nicht“ , dachte Victoria genervt. „Dann werde ich bis nächsten Freitag irre. Ich will es jetzt hinter mich bringen.“
Abrexar nickte stumm.
„Also“, hob Victoria erneut an, „ich glaube, ich weiß, was das zweite Gesicht ist.“
Abrexar blieb äußerlich weiter gelassen und unbewegt, doch Victoria spürte überdeutlich die beißende Neugier, die in seinem Inneren aufloderte. „Tja, du bist, was du bist“ , bemerkte Victoria innerlich grinsend. Es verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung, dass Jaromirs Mentor seinen Wissensdrang kaum kontrollieren konnte. Für ihn waren gute Geheimnisse so verführerisch wie Drogen für einen Junkie, der dringend einen Schuss brauchte.
Sie ließ ihn noch einen Moment zappeln. Doch sie wusste, dass er es erfahren musste. Auch wenn sie selbst damit ein moralisches Problem hatte – die Goldenen würden ohne zu zögern solche Informationen untereinander austauschen, wenn es dabei um sie gehen würde. Sie seufzte – „Jetzt spiele ich auch schon mit bei diesem Spiel“ – und öffnete dann kurz ihren Geist.
Die Bilder zeigten aus Lexias Perspektive wie die Goldene mit Falk schlief. Die Art der Bilder, zeigte eindeutig, dass es sich hierbei um ein reales Ereignis handelte und nicht etwa um einen Wunschtraum.
Abrexar sah sie fragend an.
„Das ist so nie passiert“, erklärte Victoria leicht beschämt. „Oder besser gesagt: Noch nicht.“
„Was macht dich da so sicher – ich meine, wenn ich dich richtig verstanden habe, sind die beiden seit fast fünf Wochen ein Paar und Falk setzt doch sicher alles daran, dass…“
„Na sicher tut er das, aber Lexia war in den letzten Wochen nur selten in Kiel. Außerdem traut sie ihrer Selbstbeherrschung noch nicht ganz über den Weg. Falk stachelt das nur noch stärker an. Er will sie haben. Um jeden Preis, aber er hat tatsächlich noch nicht mit ihr
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