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Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Titel: Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustave Flaubert
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den Emma gewöhnlich benutzte, bisher nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich schließlich davor, drehte den Schlüssel herum und drückte die Feder. Léons sämtliche Briefe lagen da. Diesmal gab es keinen Zweifel! Er verschlang sie bis auf den letzten, wühlte in allen Ecken, allen Möbeln, allen Schubladen, hinter den Wänden, schluchzend, heulend, verzweifelt, wahnsinnig. Er entdeckte ein Kästchen, zertrümmerte es mit einem Fußtritt. Rodolphes Porträt sprang ihm ins Gesicht, inmitten durcheinandergeworfener Liebesbriefe.
    Man wunderte sich über seine Mutlosigkeit. Er ging nicht mehr aus dem Haus, empfing niemanden, wollte nicht einmal seine Patienten besuchen. Da wurde behauptet, dass er sich einschließe, weil er trank .
    Manchmal jedoch spähte ein Neugieriger über die Gartenhecke und sah zu seiner Verblüffung diesen Mann mit langem Bart, in dreckige Kleider gehüllt, verwildert, der laut weinend umherlief.
    Abends, im Sommer, nahm er seine kleine Tochter und besuchte mit ihr den Friedhof. Erst in stockdunkler Nacht kehrten sie heim, wenn nirgendwo am Platz mehr Licht brannte, außer in Binets Dachluke.
    Doch konnte er seinen Schmerz nicht mit voller Lust auskosten, denn er hatte niemanden, der ihn teilte; und er besuchte Mutter Lefrançois, um über sie reden zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit halbem Ohr, auch sie war kummergeplagt wie er, denn Lheureux hatte vor kurzem die Favorites du Commerce eingerichtet, und Hivert, der, was Besorgungen anging, einen guten Ruf genoss, forderte mehr Lohn und drohte, er werde sich »bei der Konkurrenz« verdingen.
    Eines Tages, als er auf den Markt nach Argueil geritten war, um sein Pferd zu verkaufen – die letzte Geldquelle – , traf er Rodolphe.
    Beide erblassten, als sie einander sahen. Rodolphe, der nur seine Visitenkarte geschickt hatte, stammelte zunächst ein paar Entschuldigungen, fasste sich dann wieder ein Herz und trieb die Kühnheit so weit (es war heiß, Mitte August), ihn zu einer Flasche Bier ins Wirtshaus einzuladen.
    Mit aufgestützten Ellbogen saß er ihm gegenüber, schwadronierend und auf seiner Zigarre kauend, und Charles verlor sich in Träumereien vor diesem Gesicht, das sie geliebt hatte. Ihm war, als sähe er etwas von ihr. Er geriet in Verzückung. Er wünschte, er wäre dieser Mann.
    Der andere redete weiter von Ackerbau, Dünger, Vieh, verstopfte mit geistlosen Sätzen jede Lücke, durch die eine Andeutung hätte eindringen können. Charles hörte nicht zu; Rodolphe merkte es, und er verfolgte an den Veränderungen in seinem Gesicht die vorüberziehenden Erinnerungen. Langsam wurde es tiefrot, die Nasenflügel zuckten, die Lippen bebten; und es gab sogar einen Augenblick, da Charles, von dumpfer Wut erfüllt, seine Augen auf Rodolphe heftete, der vor Schreck verstummte. Doch kurz darauf erschien wieder derselbe trostlose Überdruss auf seinem Antlitz.
    »Ich nehm es Ihnen nicht übel«, sagte er.
    Rodolphe schwieg. Und Charles, den Kopf in beide Hände gelegt, erklärte mit tonloser Stimme und der Gefasstheit unendlichen Schmerzes:
    »Nein, ich nehm es Ihnen nicht mehr übel!«
    Er fügte sogar ein großes Wort hinzu, das einzige, das er jemals gesagt hat:
    »Schuld ist das Schicksal!«
    Rodolphe, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand ihn ganz schön gutmütig für einen Mann in seiner Lage, ja sogar lachhaft und ein bisschen verachtenswert.
    Am nächsten Tag ging Charles hinaus und setzte sich auf eine Bank, in der Laube. Lichtflecken fielen durch das Gitterwerk: die Weinblätter zeichneten ihre Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete, der Himmel war blau, Kanthariden schwirrten um die blühenden Lilien, und Charles rang nach Luft wie ein junger Bursche unter dem dunklen Liebesandrang, der sein trauriges Herz schwellte.
    Um sieben erschien die kleine Berthe, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, und rief zum Abendessen.
    Er hatte den Kopf nach hinten geneigt, gegen die Mauer, die Augen geschlossen, den Mund offen, und hielt in den Händen eine lange Strähne von schwarzem Haar.
    »Papa, steh auf!« sagte sie.
    Sie glaubte, er wolle spielen, und schubste ihn sanft. Er fiel zu Boden. Er war tot.
    Sechsunddreißig Stunden später kam, auf Wunsch des Apothekers, Monsieur Canivet herbeigeeilt. Er öffnete ihn, fand aber nichts.
    Nachdem alles verkauft war, blieben zwölf Franc und fünfundsiebzig Centime, mit denen Mademoiselle Bovarys Reise zu ihrer Großmutter bezahlt wurde. Die gute Frau starb noch im selben

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