Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
sich wortreich und beschimpfen sich in den verstopften StraÃen. Ich habe diesen Wirrwarr der Stadt, dieses urbane Chaos nicht vergessen.
Ich spaziere durch den Parc Monceau, in der Hoffnung, dass es mich entspannt. Die Bäume, das sanfte Grün, das Lachen der Kinder, die aus der Schule kommen, die Jogger, die alle in dieselbe Richtung laufen  â noch eine Scheibe Wirklichkeit, bevor ich in die Fiktion eintauche. Die Rolle, um die ich mich bewerbe, ist die einer in vielerlei Hinsicht verletzten Frau, die in Bars singt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Ich passiere das Gittertor in der Avenue Hoche, Nummer 15. Und finde den Eingang im Untergeschoss. Ich gebe zu, dass ich ziemlich nervös bin, ich habe schon so lange nicht mehr an einem Wettbewerb teilgenommen! Man kann genauso wenig aus dem Stand Schauspielerin werden, wie man aus dem Stand Sängerin werden kann. Alles muss gelernt werden, in der Theorie und in der Praxis. Mir fällt es in der Praxis immer leichter ⦠Für mich ist learning by doing das Richtige.
Claude Lelouch erwartet mich im Vorführraum, wo die Probeaufnahmen stattfinden. Er begrüÃt mich sehr herzlich und beschreibt mir die Rolle in allen Details. Die Heldin, eine vom Leben gezeichnete junge Frau, heiÃt Jane, sie hat Gedächtnisschwund und glaubt auÃerdem, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Die Begegnung mit einem Mann, der ebenfalls an Gedächtnisstörungen leidet, verändert ihr Leben. Der Regisseur ist dafür bekannt, dass er von der Wahrheit besessen ist. In seinen Filmen verwendet er das echte Leben und verzichtet möglichst auf Tricks aller Art. Filme zu machen, bedeutet für ihn, die Wahrheit zu enthüllen oder sie schlimmstenfalls herzustellen. Die Fiktion ist immer eng an die Realität gebunden. Nachdem er mich über die Rolle informiert hat, stellt er mir Francis Huster vor, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat. Er wird mir gleich die Stichworte geben.
Doch eigentlich ist ihm der Text egal, er will ja Wahrheit. Er glaubt nur an das Gesagte. Improvisation ist besser als das beste Skript der Welt. Heute ersetzt er die Buchstaben auch noch durch Zahlen. Er gibt mir eine Intonation vor, eine Intention, Angst, Zorn, Traurigkeit, und ich muss sie in Zahlen umsetzen, wie es mir gerade richtig erscheint. Es sei unwichtig, was ich erzählen würde, schlieÃlich hätten die Zahlen keine Bedeutung. Wichtig sei, wie ich sie sagen würde.
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Nachdem die ersten fünf Minuten, in denen es mir schwerfällt, vorüber sind, macht es mir SpaÃ. Es ist spielerisch und ziemlich genial, weil leichtgängig. Ich nehme es wie das sonntägliche Versteckenspielen mit meinen Neffen und Nichten. Ich komme auf den Geschmack und werde wieder zum Kind. Es ist befreiend und ungeheuer kurzweilig und amüsant. Irgendetwas sagen, so tun, als ob, erfundene Masken aufsetzen, um Gefühle auszudrücken, die man eigentlich nicht hat. Das heiÃt, ein wenig hört man im Grunde doch auf sich selbst. Das merke ich. Wir haben jede der Figuren in uns. Und deshalb muss man nur auf die richtigen Knöpfe drücken, damit sie herauskommen. Mit Francis ist schnell ein Rhythmus gefunden. Aus diesem absurden Zahlendialog entsteht eine Art Einverständnis. Als ich anfange, ihn mit Neunen zu beschimpfen, brechen wir in schallendes Gelächter aus. Es ist eben eine ulkige Situation.
Ich habe die Kamera in der Ecke durchaus bemerkt, aber ich habe sie verdrängt. Ich habe mir eingeredet, sie sei gar nicht in Betrieb. Um zu vergessen, dass dies hier ein Casting ist, um mich nicht unter Druck zu setzen. Jetzt ist es vorbei, der Film ist aufgenommen, wir sind fertig. Und wenn ich es verdorben habe, kann ich nichts mehr daran ändern. Ich stehe im Eingang und fülle nach diesen Zahlenkanonaden wieder meine inneren Wasservorräte auf, da ruft er mich herein. Da ich immer noch so wenig Selbstbewusstsein habe, bin ich aufs Schlimmste gefasst. Ich glaube, er wird sich bedanken und kühl und herablassend sagen: »Wir rufen Sie dann an â¦Â« Daran erkenne ich, dass ich nicht reifer geworden bin. Ich bin groà geworden, wie meine Mutter es sich wünschte. Und doch bin ich die Kleine geblieben, die fürchtet, man werde mit ihr schimpfen, ihr vorwerfen, sie habe nichts Gutes geleistet,
sie könne es besser machen. Die anderen erkennen mein Talent an, aber ich unterstelle ihnen immer, dass sie daran
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